In Kürze erscheint Dein erster Gedichtband, “Schirling und Balustrade”. Warum hat das so lange gedauert, Du dichtest doch schon seit Jugendtagen?
Zunächst: In jener Vorzeit hatte ich natürlich an Publikation gedacht. Damals war es mir möglich, mich selbst unter der Pathosformel ‚Dichter‘ zu beobachten und darin einen eigentümlichen Genuß zu finden. Als ich dann in die Zonen anders disziplinierten Denkens geriet, verlor sich der Wunsch zur Veröffentlichung, nicht aber der Zwang, weitere Texte dieser Art zu verfertigen. Der Zufall wollte es, dass ich sie meinem Freund Uli Reiter zeigte, der mich davon überzeugte, sie gedruckt zugänglich zu machen. Er hat dann ja auch die korrespondierenden Bilder hergestellt.
Warum sprichst Du so vorsichtig von ‚Texten‘ und nicht von ‚Gedichten‘?
Weil in Worten wie Dichter, Poetin, Poesie, Gedichte häufig ebenjener Pathos überwintert, den ich, wie Du weißt, nicht so sehr schätze. Dazu kommt, dass nicht selten eine Art von Zwang zur Weltanschaulichkeit im Spiel ist. Irgendwie geht es auch darum, mit Gedichten Botschaften zu streuen, die recht schnell lesbar und verstehbar sind – zum Beispiel als Kritik an der Gesellschaft, als Aufsehenserreger.
Erinnerst Du Dich an eines Deiner frühen Gedichte? Worum ging es da? Welche Formen hast Du benutzt?
Ich denke, damals ging es tatsächlich noch ‚um etwas‘, um Liebe, Romantik, Eros, Leidenschaft. Aber heute sehe ich – denn ein Teil dieser Texte existiert noch –, das im Zentrum wohl eher mein Interesse an Formen stand, von der Antike bis zu den Sonetten Shakespeares und Rilkes und vor allem in anderen Kulturen: Japan, China, Indien etc.
Was schätzt Du an Gedichten?
Aus meiner Sicht wie bei Kunst, wie bei Musik die Formalität, die das Ästhetische ausmacht, oder in einer anderen Sprache: das Sublime. Ich meine damit – in meiner sonstigen Terminologie ausgedrückt – die Erscheinung der Differenz zwischen dem Unsagbaren und dem Sagbaren im Medium der Sagbarkeit, letztlich im Medium ‚Sinn‘. Das ist natürlich ein Topos, dem man schlecht entkommt, wenn man über moderne Lyrik spricht. Ich könnte dem nur hinzufügen, dass jenes Medium eine nur einseitig verwendbare Zweiseitenform darstellt. Man kann es nicht verlassen, aber raffinieren – bis hin zur Installation einer Witterung für die Gegenseite, für den Nicht-Sinn im Sinn. Wenn ich so etwas angeboten bekomme, bin ich glücklich und zufrieden.
Mir ist der Gesichtspunkt der Formalität noch nicht ganz deutlich.
Ich lese gerade einen opulent ausgestatteten Band über Kunst ‚Im Lichte Hollands‘. Da hast Du dann einerseits eine gleichsam ‚erschlagende‘ Sinnlichkeit, anderseits eine Meisterschaft der Formen, der Gestaltung, von Kolorit und Komposition, der ich dann – ohne einen Hauch von Genußverlust – ‚nachspaziere‘. Im Zentrum steht für mich dieser Umgang mit Unterschieden und Unterscheidungen, der von Sinnlichkeit nicht zu trennen ist.
Vor der Entstehung der Wissenschaft im heutigen Sinn hat man nicht zwischen ihr und lyrischen Formen unterschieden. Beide waren eins. Du selbst hast dich mit dem Thema des Lehrgedichts befasst. Heute trennt man beide Bereiche mit Hilfe der Codes wahr/unwahr und schön/häßlich …
Insoweit man gesonnen ist, die Lyrik der Kunst zuzurechnen, wobei im Fall der Kunst die Differenz auf ihrer Seite in sich wiedereintritt. Das Häßliche, etwa das Bild eines pestkranken Menschen oder Gedichte über den Krieg oder Krebsbaracken, erscheint ästhetisiert. Schönes und Häßliches fallen für die Wahrnehmung – aisthesis – ineinander und profilieren sich aneinander.
Du hast die Funktion der modernen Lyrik einmal – sinngemäß – als ein Innehalten beschrieben. Was auf eine Paradoxie hinausläuft: Wer ein Gedicht liest, sich also einer Sequentialität überlässt, bleibt stehen …
Im Vorwort zum Gedichtband schreibe ich: „Lyrik nötigt das Rezipieren von Gedichten zu einer Langsamkeit, die man sonst nur aus der Lektüre schwieriger philosophischer und wissenschaftlich abstrakter Texte kennt. Gedichte sind, funktional gesehen, das Erzwingen von Lese-Entschleunigungen. Deswegen können sie routinierte Entwürfe der Welt auswaschen. Die Unterscheidungs- und Bezeichnungsleistungen üblicher Weltbeobachtung werden durch nicht-üblich dichte Formen, von komplexen Implexionen (Innen-Verfaltungen) auf kontingent gestellt, auf: weder notwendig noch unmöglich. Dies geschieht durch durch ein Verfahren, in dem diese Formen selbst als notwendig markiert werden: Im Gedicht zählt jeder Buchstabe, jedes Wort, jede Pause, schlicht alles, was andere Möglichkeiten seiner selbst restringiert.“
Und so etwas gehört in das Vorwort eines Gedichtbands?
Üblicherweise nicht. Auch der Verlag wünschte sich eher etwas ‚Schönes‘, aber ich mache ja meistens, was mir gefällt. Und in diesem Fall kam es mir auf den Kontrast an.
Also hast du stattdessen etwas ‘Wahres’ geschrieben … Mir ist schon beim Lesen des Titels ein markanter Unterschied aufgefallen: das ‘und’. Als Wissenschaftler scheinst du solche ‘Undheiten’ zu vermeiden, wenn man einmal von “Intervention und Erfahrung” absieht. Zumindest hast du mir stets von solchen Und-Titeln abgeraten. Warum eigentlich?
Tatsächlich? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. ‚Und‘ ist ein Allerweltswort, es sei denn, es inflationiert in einem Text. Wahrscheinlich habe ich diese Gefahr gemeint. In poetischen Texten ist jedes Wort, um es paradox auszudrücken, zentral, vor allem, wenn es das Unzusammengehörige verbindet: Schirling und Balustrade.
Ich finde ja, dass kaum ein Dichter das ‘und’ so perfekt eingesetzt hat wie Hölderlin. Wenn man an “Hälfte des Lebens” denkt: Ihr holden Schwäne/Und trunken von Küssen … Welche Funktion hat das ‘und’ an dieser Stelle?
‚Ihr holden Schwäne‘ ist eingeschlossen in Kommata, so dass diese Wendung zur Anrede wird, wobei ‚Schwan‘ seit der Antike den Dichter meint, der so trunken wie ‚heilignüchtern‘ ist. Das ‚Und‘ kommt in der ersten Versgruppe zweimal vor, rythmisch parallelisiert. Es leistet unter anderem winzige Aufschübe … aber darüber könnte man stundenlang reden.
Gut, wechseln wir das Thema: Du legst schon als Wissenschaftler ein hohes Sprachbewusstsein an den Tag, was ja eher ungewöhnlich ist – und dich vielleicht in der Branche sogar ein wenig verdächtig macht …
Da ist sicher etwas dran. Immerhin finden sich ersichtlich und gerade auf Grund dieses Exotismus andernorts spannende Anschlußmöglichkeiten. Es gibt Leser, die den Zusammenzug von Opulenz und Askese zu schätzen wissen.
Du sagst, in Gedichten wird Fremdreferenz gelöscht. “Schirling und Balustrade” – zumindest was den Titel angeht, kann ich Dir nicht zustimmen. Hier eine giftige Pflanzenart – dort ein Geländer …
Es geht ja auch nicht um die Fremdreferenz der Wörter, sondern um ihre Konfiguration. Du kannst ausprobieren, was ich meine, wenn Du die Fremdreferenz der Wendung zu entdecken versuchst. Schirling ist nicht nur Gift für Sokrates, sondern auch ein Bild des Transits zum Tode, und Balustrade ist eine Abgrenzung, eine Sperre, von der aus Sicht eröffnet wie verschlossen werden kann. An Balustraden kann man in Liebesdingen hochklettern. Schirling ist eine der giftigsten Pflanzen, der Hundspetersilie optisch ähnlich … Darin steckt dann wieder der ‚Hund‘, also auch ‚Zerberus‘, der schreckliche, dreiköpfige Höllenhund, aber nicht minder: ‚Peter‘… Kurz: Die Fremdreferenz ist nicht fixierbar. Stattdessen kommt es, wie bei Kunst überhaupt, zu einer Maximierung von Selbstreferenz, einem Binnenspiel der unendlichen Bedeutungsmöglichkeiten von Zeichen, Rhythmus, Klang und deren Koproduktion.
Hagazussa.HeckenSichten
108 Seiten
Kulturverlag Kadmos
21 x 21 cm, gebunden, erscheint voraussichtlich im April 2014
ISBN: 978-3-86599-203-1
Photo: M. Heidingsfelder