Susan Blackmore

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Ich-Rolle ist die vielleicht schwierigste Rolle unseres Lebens. Mancher Schauspieler mag Mühe haben, sich in einen komplizierten Charakter hineinzuversetzen, um ihn zu verkörpern – und gerade der Körper dient hier in vielen Fällen als ein beliebtes Hilfsmittel: schon durch Hochessen oder Herunterhungern kann man sich offenbar schwierigen Fremdrollen annähern. Aber nichts geht über die Schwierigkeit, sich selbst zu verkörpern. „Du kannst doch dich selbst spielen“, rät der Musiker und Moderator Olli Schulz während der Dreharbeiten für Durch die Nacht mit (ZDF/ARTE) dem Schauspieler Tom Schilling, der nicht recht weiß, wie er mit der ungewohnten Situation des permanenten Gefilmtwerdens umgehen soll. „Dazu“, erwidert Schilling, sich selbst spielend, “bin ich zu ehrlich.“ Das ist das Paradoxe: das Kunststück gelingt uns jeden Tag scheinbar mühelos aufs Neue. Hin und wieder tun sich Lücken in der Ausübung der eigenen Rolle auf, mitunter kommt es zu Konflikten mit den vielen anderen Rollen, die man uns im Laufe unseres (viel zu) langen Lebens zumutet. Das größte Mißverständnis ist vielleicht, dass wir glauben, uns diese Selbst-Rolle auch selbst zumuten zu müssen. Tatsächlich erwarten alle anderen von uns, was wir auch von ihnen erwarten: dass sie ‚sie selbst‘ sind – am besten ganz und gar, durch und durch, als Kongruenz von innen (denken, fühlen) und außen (handeln). Aber wer von uns wäre von allein auf den Gedanken gekommen, sich selbst als möglichst harmonische Einheit Tag für Tag aufs Neue zur Aufführung zu bringen? Die Selbstrolle oder Ich-Rolle erweist sich bei genauerer Betrachtung als Fremdrolle. Es ist die Gesellschaft, die von uns eine – möglichst lückenlose, konsistente – Ich-Performance erwartet. Man ruft uns auf die zahlreichen gesellschaftlichen Bühnen, und erwartet von uns, dass wir den dort zu verkörpernden Fremdrollen immer auch zumindest die Farbe einer Selbstrolle geben, dass wir also beispielsweise in der Lage sind, eine ‚eigene Meinung‘ zu äußern. Und doch: wissen alle im gleichen Moment auch, dass dieses konsistente Ich nur ein Ideal ist. Weshalb jene Menschen, die – in den Augen ihrer Umwelt – ihren eigenen Prinzipien folgen und treu bleiben („ehrlich sind“), auch wenn sie dadurch entsprechende Risiken (Kündigung, Trennung, Tod) in Kauf nehmen, von uns bewundert und verehrt werden. Der Normalfall ist diese Selbsttreue nicht, denn dann säßen viele von uns auf der Straße oder lägen tot im Straßengraben.

Wie nähern wir uns selbst diesem komplexen Geflecht von Selbst- und Fremdverhältnissen, von Ich und Gesellschaft, von Alter und Ego? Wie lässt sich die Figur der Ich-Rolle am besten erfassen? Die Antwort, die Soziologe – manche sagen: Philosoph – Peter Fuchs vorschlägt, lautet: Mit Hilfe von Geschichten. Denn gerade Geschichten sind es, die wesentlich mit dazu beitragen, einen konsistenten Selbsteindruck zu erzeugen – jene Geschichten, die wir uns selbst von uns selbst erzählen. Sie erlauben uns, ein konsistentes Ich zu erfinden. Vor uns selbst wissen wir zwar, dass diese ‚Selbstgeschichten‘ nur Geschichten sind. Andererseits sind wir, schon aus Selbstschutz, geneigt anzunehmen, dass sie mehr oder weniger der Wahrheit entsprechen. Dass wir so sind, wie wir uns das selbst erzählen. Unser Gedächtnis schickt uns freundliche Grüße, denn da wir – unbewusst – in einem fort vergessen, also aussortieren und löschen, was unserem Selbstbild Probleme bereitet und die (Selbst-)Zufriedenheit stört, zum Teil vorausschauend, also nur mutmaßend, dass es so sein könnte, müssen wir in vielen Fällen gar nicht aktiv ins Geschehen eingreifen. Schon dieser Umstand ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass wir es mit verwickelten Verhältnissen zu tun haben. Denn wieviel Selbst bleibt übrig, wenn etliche Prozesse, die zum Zwecke der Harmonisierung und Instandhaltung des Selbstbilds ablaufen, eben nicht von uns selbst, sprich: unserem Bewusstsein gesteuert sind? Es könnte hilfreich sein, Bewußtseinsprozesse als Selbstprozesse im engeren Sinne und psychische Prozesse als Selbstprozesse im weiteren Sinne zu unterscheiden. Bewußtseinsprozesse sind Selbstprozesse, an denen wir ‚pro-aktiv‘ teilnehmen, die unsere Aufmerksamkeit verlangen – psychische Prozesse dagegen wie das Erkennen von Farben und Formen laufen automatisch ab, gleichsam ohne unser Zutun. An der Erschaffung der Ich-Rolle wirken immer auch diese psychischen Prozesse mit, die sich unserer Kontrolle erziehen – von Hardware-Voraussetzungen wie Haarfarbe oder Körpergeruch oder Stimme einmal abgesehen. Wir können uns im Moment der Appräsentation unseres ‚Ich‘ nicht die ganze Zeit damit befassen, ob diese Vorführung gelingt – dann geraten wir ins Taumeln, wie der Skateboarder, der im Moment des Sprungs über dessen Ausführung nachdenkt. Wer wie Susan Blackmore mit einer knallroten Strähne im Haar und auch im Ganzen eine selbst für heutige Maßstäbe und im Wissenschaftsfeld ohnehin eher auffällige Frisur wählt, der muss damit rechnen, dass sein Verhalten an dieser Haarsträhne, dieser Frisur gemessen wird. Würde Susan Blackmore in ihrem Bewußtseinsbuch eher biedere, brave Fragen stellen, sich insgesamt durch ein vor allem buchhalterisches Interesse auszeichnen und gerade nicht: als individuelle, widersprechende, mitunter sogar etwas zickige Interviewpartnerin in Erscheinung treten, als ‚sie selbst‘ eben, ihre rote Strähne könnte leicht als Widerspruch zu ihrem sonstigen Verhalten gedeutet werden. Denn das Selbst wird stets auch an der körperlichen Erscheinung gemessen. Glatzen, Bäuche, Muskeln, Körpergeruch spielen sozusagen ebenfalls eine Rolle. Genauer: Tragen bei zum Rollenspiel. Zwar kann man durchaus, anders als Watzlawick annahm, nicht kommunizieren – ich muss nur für einen Moment still aus dem Fenster schauen. Aber sich nicht zu verhalten ist ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst wer dezidiert nicht handelt, also auf rote Strähnen im Haar verzichtet oder für einen Monat die Körperpflege einstellt, handelt ja, trifft eine Entscheidung. Jedes Verhalten kann somit als eine bestimmte Kommunikation gedeutet werden, Dinge, die einem eher unterlaufen, als Mitteilung. Ob es sich um eine Kommunikation gehandelt hat, lässt sich kaum klären. Man kann natürlich nachfragen, aber was man dann erhält, ist lediglich eine Antwort.

Heutzutage erwartet man von uns, dass wir die Fremd- bzw. Sozialrollen mit der Ich-Rolle in Übereinstimmung bringen, also Einstellungen, Gefühle und Absichten mit dem, was man im Büro, auf der Baustelle, im Krieg, beim Heiraten von uns erwartet. Den eigentlichen Bezugspunkt unserer Orientierungen bilden aber nicht unsere Selbstbedingungen – auch wenn diese sich in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher in den Vordergrund geschoben haben. Auch bestimmte persönliche Eigenschaften werden uns ja unterstellt. Wir versuchen zwar, hier von  vornherein für bestimmte Unterstellungen Vorsorge zu treffen (“Bitte nehmt an, dass ich der und der bin, so wie ich es ja auch von mir annehme!”), können das Geschehen aber natürlich nicht kontrollieren. Genau das nennt man: Realität. Vielleicht muss man sogar sagen, dass auch unsere Selbsterzählungen nicht mehr sind als Unterstellungen, eine Form von Selbsthypnose. Worauf es ankommt, ist: die erlebten Situationen mittels dieser Unterstellungen – also fiktiver Annahmen – deuten zu können. Nur wenn das gelingt, festigen sich bestimmte Rollenauslegungen. Wer in einem fort beruflich scheitert, dessen von einem erfolgreichen Unternehmer handelnde Selbsterzählung wird früher oder später Schaden nehmen.

Der Fall Hoeness

Wir wissen nichts über die Motive von Uli Hoeness – und wir müssen auch nichts über sie wissen, denn sie spielen keine Rolle. Zumindest nicht aus rechtlicher Sicht. Wir müssen im Gegenteil für eine Beurteilung dieses Falls von den Motiven absehen.

Warum sollten wir?

Ganz einfach, weil die Norm ansonsten ihre Funktion nicht erfüllen kann. Hoeness hat womöglich gar nicht gewußt, dass er gegen geltendes Recht verstößt.

Ich glaube eher, dass er nicht einer Meinung war mit der Steuernorm. Dass er sie nicht für legitim hielt, mehr noch: für hoenesswidrig. Weil sie sich nicht mit bestimmten Werten seiner Person im Einklang befand. Dass er sich gefragt hat: Warum soll ich dabei mithelfen, eine solche Norm – eine Norm, die Erfolg bestraft – gegen meine massiv anders ausgerichtete Realität durchzuhalten?

Dann hätte ich ihm geantwortet: Weil du deine Freunde enttäuschen könntest, lieber Uli.

Welche Freunde?

Politiker, die mit für die Norm verantwortlich sind und bestimmte Erwartungen in dich haben. Vor allem die, dass du von ihnen mitgestaltete Normen auch befolgst.

Ich glaube, diese Freunde haben vor allem erwartet, dass er die private Seite auf der privaten lässt.

Was er durchaus ehrlich versucht hat. Aber dann kam der blöde Stern und ließ ihm keine Wahl. Er hat ja gesagt, das Zocken war wie Monopoly für ihn. Aber Gefängnis ist kein Spiel. Die Aussicht auf einen möglichen Freiheitsentzug hat ihm klargemacht, dass er nicht im Sinne des Rechts erwartet hatte, oder anders: dass er ein Recht darauf hat, verurteilt zu werden.

Ich weiß nicht. Ich würde eher versuchen, eine psychoanalytische Perspektive einzunehmen.

Und wie würdest du da vorgehen?

Du weißt vielleicht, dass Genießen laut Lacan alles andere als ein Genuss ist.

Nein, wußte ich nicht. Sondern?

Harte Arbeit. Wenn wir uns Dinge auf der Zunge zergehen lassen, tun wir nur unsere Pflicht. Uli Hoeness hätte somit beim Zocken nicht einfach irgendwelchen Neigungen nachgegeben – was im übrigen durchaus auf seiner Verteidigungslinie liegt –, das Zocken war kein Genuss für ihn, es hat ihm eher Schmerz als Lust bereitet. Er hat darunter gelitten, aber er konnte nicht anders: er musste seine Pflicht tun.

Zocken als Pflichterfüllung?

Ja. Was treibt einen Staatsbürger deiner Ansicht nach dazu, ethisch zu handeln? Steuern zu zahlen, sich um krebskranke Kinder zu kümmern?

Keine Ahnung. Irgendwelche Ideale vermutlich.

Ideale ist gar nicht so schlecht. Freud unterschied Ideal-Ich, Ichideal und Über-Ich. Lacans Präzisierung dieser drei Instanzen lautet: das Ideal-Ich steht für das idealisierte Selbstbild – für die Art und Weise, wie Uli Hoeness sein, wie er von anderen wahrgenommen werden möchte. Hierher gehören sämtliche in der Öffentlichkeit gemachte, für sie gedachte Äußerungen. Das Ichideal dagegen ist die Instanz, die man mit seinem Ich beeindrucken möchte – der große Andere, der Hoeness antreibt, sein Bestes zu geben, das Ideal, dem er zu folgen und das er zu verwirklichen sucht. Das Über-Ich ist die gleiche Instanz, nur befindet sie sich auf der Gegenseite: es bestraft, rächt, quält. Diese drei Instanzen entsprechen genau der für Lacan so wichtigen Trias imaginär-symbolisch-real. Das Ideal-Ich ist imaginär: Hoeness stellt sich vor, wer er gerne wäre. Er schaut in den Spiegel und sieht einen braven, hart arbeitenden, keine Steuern hinterziehenden Bürger. Er idealisiert sich. Das Ichideal dagegen ist symbolisch: der Ort im großen Anderen, von dem aus er sich betrachtet und beurteilt. Das Über-Ich ist die Wirklichkeit: die Massenmedien, die Steuerbehörde, die enttäuschte Bundeskanzlerin – die grausame Instanz, die von ihm Unmögliches fordert – immer brav abführen, nie zocken – und sich über sein Scheitern lustig macht, über seine vergeblichen Versuche, das sündige Streben zu unterlassen. Lacan fügt eine vierte Instanz hinzu. Anstatt das gute Ichideal gegen das böse, grausame Über-Ich in Stellung zu bringen, verweist er auf das Gesetz des Begehrens. Das ist die Instanz, die von uns fordert, im Einklang mit unserem Begehren zu handeln. Und die Kluft zwischen dieser Instanz und dem Ichideal – den von uns internalisierten soziosymbolischen Normen und Idealen – ist laut Lacan ziemlich groß.

Ich verstehe. Die Kluft ist schuld …

So würde ich das sehen. Sein Ichideal führte Hoeness zu moralischer Reife, machte ihn zu einem fürsorglichen Club-Präsidenten. Aber um den Preis, das Gesetz des Begehrens zu verraten.

Dann war der Grund für seine Zockerei: die Akzeptanz vernünftiger Forderungen?

Ja, das ist die Idee. Das Über-Ich ist die Kehrseite dieser moralischen Reife, weil es einen nahezu unerträglichen Druck auf uns ausübt – im Namen dieses Verrats. Wir fühlen uns schuldig, weil wir von unserem Begehren abgelassen haben. Das Verbot, Steuern zu hinterziehen, ist also nicht einfach nur negativ, es ist auch positiv bzw. produktiv. Gerade weil er sich im Geschäftsleben so im Griff hatte, war Hoeness als ‘Zocker’ nicht Herr seiner Neigungen.