Viele Teilsysteme der Gesellschaft arbeiten mit Rollenasymmetrien: Arzt/Patient, Regierende/Regierte oder Lehrer/Schüler. Diese Rollen und Gegenrollen finden sich als Leistungsrollen und Publikumsrollen auch im Pop: hier der Star, dort der Fan. Wie jedes System stellt auch Pop eine Publikumsidentität her, konstruiert sich ein Publikum, an das es sich wendet, um die eigene Kommunikation mit Annahmechancen auszustatten. Inkludiert – als relevant markiert, dem System vom System zugerechnet – wird der, der sein Tun am Systemcode Hit/Flop ausrichtet bzw. vom System als an diesem Code orientiert Handelnder errechnet wird.
Die Publikumsrolle bietet die allgemeinste Zugänglichkeit zu den Systemen. In Bezug auf die Wissenschaft kann sich jeder einbezogen fühlen, sofern er teilnimmt an technischen Erfolgen, nicht verklebende Wundauflagen benutzt oder sich eines irreversiblen Datenkompressionsverfahrens bedient. Doch diese Teilnahme bleibt passiv. Auch Pop zeitigt in erster Linie Placebo-Effekte. Man kauft die neue Single von Tokio Hotel oder lädt sie sich runter, jubelt den fantastischen Vier zu – oder den faschistischen, je nachdem – und gehört dazu. Man hat das Gefühl der Teilnahme. Egos Erleben wird beim Musikhören zu Alters Handeln: »Die stählernen Klänge der elektrischen Gitarre zogen dich mit auf die Bühne. Der trockene Beat des Drummers nagelte dich fest. Du warst mittendrin. Der Baß pumpte so einfach wie dein beschleunigter Herzschlag. Du hast mitgespielt. Minutenlang. Es war ganz einfach. Du brauchtest nicht zu üben, brauchtest kein Instrument zu beherrschen. Es war ganz mühelos, du konntest es, musstest nur die Augen schließen und warst dabei.« Pop-Videospiele wie Guitar Hero machen sich diese Illusion der Teilnahme zunutze und verstärken sie: wer die richtigen Tasten am Gitarrenhals drückt, spielt mit.
Mehr als alle anderen Systeme kann Pop als ein Versuch angesehen werden, Leistungs- und Publikumsrollen einander anzunähern. In der Wissenschaft sind die Mitmachanforderungen hoch, der Amateur hat hier kaum eine Chance. Zwar wird über Publikationen und Publikationsprüfungen (Gutachten) ein Inklusionsweg eingerichtet, im Prinzip können also alle, faktisch aber nur wenige teilnehmen. Das Gleiche gilt für Kunst, Politik, Religion. Ein Inklusionsdefizit, das durch Pop scheinbar kompensiert wird:
»So you want to be a rock’n’roll star?
Then listen now to what I say
Just get an electric guitar
Then take some time
and learn how to play
And with your hair swung right
And your pants too tight
It’s gonna be all right
Then it’s time to go downtown
Where the agent man won’t let you down
Sell your soul to the company
Who are waiting there to sell plastic ware
And in a week or two
If you make the charts
The girls’ll tear you apart«
(The Byrds, So You Want To Be A Rock’n’Roll Star)
Popstar werden? Nichts leichter als das. In diesem Versprechen liegt der Grund für die immer wieder erstaunlich hohen Teilnehmerzahlen der Casting Shows. Pop vermittelt den Jugendlichen die Illusion, dass zum Starsein nicht viel mehr erforderlich ist als Jugend, Mut, Individualität. Doch so mühelos, wie es scheint, ist der Einschluss in das System keineswegs. Auch in die Prozesse der Pop-Inklusion sind Rollenfilter eingebaut. Auch im Pop-System darf der Laie nicht einfach auf die Leistungsrolle übertragen werden. Shows wie American Idol oder DSDS arbeiten mit dieser Differenz, sie inszenieren das Überschreiten dieser Grenze. Wer Inklusion erreichen will, muss im Pop einem ganz bestimmten, sozial konditionierten Verhalten genügen. Das System ist prinzipiell offen, aber selbst hier kann man sich unmöglich machen.
Auch der Begriff des Publikums bezeichnet Erwartungsstrukturen, auf die Verlass ist: eine Matrix komplementärer Erwartungen, die zum einen »die Voraussetzung des Gelingens von Darstellungen (performances)« ist, die zum anderen aber auch dafür sorgt, dass jede Darstellung mit anderen Darstellungen um die Gunst des Publikums konkurrieren muss. Im Pop-Kontext erfährt das Publikum eine zusätzliche Kennzeichnung: man spricht von Fans, also einem fanatischen Publikum, das bereit ist, sich hinreißen zu lassen.
Der vor einem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein. Dagegen versenkt die jubelnde Masse ihrerseits den Star in sich; sie umspielt ihn mit ihrem Wellenschlag, umfängt ihn in ihrer Flut.
Die sozialen Strukturen einer Pop-Performance oder eines Live-Konzerts schließen bestimmte Verhaltensweisen aus. Der Star muss überzeugend performen, das Publikum überzeugend zuhören: »People you have the power over what we do/You can sit there and wait/or pull us through/Come along sing the song/You know you can’t go wrong« (Jackson Browne, The Load Out). Ein Star ist darauf angewiesen, dass ihn das Publikum nicht nur beobachtet, sondern auch als Star würdigt, ihm diese Rolle und Funktion zuschreibt. Auch das Publikum muss also etwas leisten. Umgekehrt muss der Star das Publikum in die Performance mit einbeziehen – nur so kann die Performance gelingen. Duke Ellington macht in der Anmoderation von V. I. P.’s Boogie auf diese Bedeutung des Publikums aufmerksam – eine ausdrückliche Wertschätzung, die seitdem oft karikiert worden ist: »V. I. P. naturally means very important persons, very important persons naturally means you.« Das Publikum ist im Pop integraler Bestandteil der Performance, es ist mit verantwortlich dafür, dass die Vorstellung – die Erzeugung von Gemeinschaft – gelingt: »Die Musiker treten untereinander und mit dem Publikum im Bewusstsein völliger Gleichberechtigung in Kontakt, durch Lächeln und Begrüßung geben sie zu erkennen, dass das Konzert für sie eine angenehme soziale Beschäftigung ist und dass sie sich bei den ›Fans‹ unter Freunden befinden.« Dave Grohls Frage an das Publikum während des Hyde Park-Konzerts macht das deutlich: »Would you like to sing a song with your friend Dave?« Das Konzert erlaubt es, dass jedes einzelne Individuum seinen Bezug auf das jeweilige Kollektiv erlebt und bestätigt sieht – eine Assoziation, die in den durch die Musik vermittelten und durch sie ausgelösten Affekten begründet und abgesichert wird. Neue Medien wie Twitter gestatten es, dass bei Konzerten das Publikum nicht mehr nur auf die Koordination durch die Stars angewiesen ist, es kann sich selbst organisieren und gemeinsam bestimmte Pop-Choreographien realisieren, also selbst performen, um umgekehrt von den Stars dafür Applaus zu erhalten. Doch die Personen müssen in der Lage sein, mit der Arroganz des Systems klarzukommen, sie müssen Inklusionsverweigerungen aushalten. Access all areas? Eben nicht. Nur deshalb wird der Überall-Zugang eigens ausgewiesen. Wen Pop als relevant markiert, der findet sich zwar nicht ›im‹ System wieder. Aber es ist gut möglich, dass er im Restaurant eher einen Tisch bekommt. Insofern ist Inklusion kein friktionsloser Prozess, weil Kommunikation sich an Körpern – Menschen – und Räumen ›reibt‹. Ein Star kann sich als Fan auf der VIP-Tribüne die Spiele des VfB Stuttgart ansehen. Er darf sogar die Meisterschale küssen: »Ja! Das war super!«
Stars sind im Vergleich zum Rest der Gesellschaft eine relativ kleine Gruppe von Leuten, denen eine »willkürfähige Persönlichkeit« (Baecker) zugemutet wird. Die Beobachtung von Willkür ermöglicht dem System eindeutige Handlungszurechnungen. Der Star erscheint als Ursache seines eigenen, willkürlichen Handelns. Stars sind willkürlich, schlagfertig, furchtlos – und im Rock vor allem: ganz sie selbst. Rolle und Person erscheinen deckungsgleich. In genau dieser Form werden sie zu Identifikationsangeboten, zu Orientierungsmarken, mit deren Hilfe man das eigene Handeln und Sprechen koordinieren kann: »Haare bis zum Arsch, versteinerte Gesichter, ungestimmte Gitarren, wütende Berserker, die einen Schiß gaben auf Kultur, auf Eltern oder Notenleser, auf Lehrer oder Bullen oder Parkwächter oder Taschengeld oder langweilige Sonntage oder Gott oder Angst.« Der Star wird bewundert und beneidet, geliebt und gehasst, vor allem aber: daraufhin überprüft, was von dem, das er tut, sich übernehmen bzw. zur Koordination eigener Handlungen nutzen lässt. Diese Erwartungshaltung kann durch Selbstfestlegung, Autoselektion, vorweggenommen werden. Sie findet im Pop-System ihre Zuspitzung im Image, einem besonders kompakten Handlungskondensat, das die Erwartungen in Symbolform überführt.