
Es war einmal ein Prototyp – der Rock’n’Roll. Als sich die Nachkommen dieser Urform im Laufe von Jahrzehnten über verschiedene Lebensräume verteilten, häuften sie verschiedene Modifikationen an: Metal, Techno, Hip Hop, Reggae, Indie. Die Geschichte der Popmusik ähnelt einem Baum, dessen Stamm – Blues & Folk – zahlreiche Äste ausbildet, die sich immer weiter verzweigen. Was bedeutet: Es gibt keinen Weg zurück. ‘Back to the roots’, zurück zu den Wurzeln, kann der Ast immer nur in der Gegenwart: als Ast.
Auch Darwins Theorie ist eine Erzählung, aber sie legt mehr Wert auf die Funktion als auf die Form. Ihre Form folgt der Funktion. Sie handelt davon, was die Evolution eigentlich ‘am Laufen’ hält. Wo findet sich der Motor dieser Maschine? Antwort: Im Mechanismus der natürlichen Auslese. Besser angepasste Formen überleben, werden seligiert. Im Laufe der Generationen häufen sich vorteilhafte (ererbte) Merkmale an – eine “fortwährende Modifikation”, die auf kein Endziel hinausläuft. Hier die Variabilität einer bestimmten Art (die auch ‘Systemtheorie’ heißen kann), dort die Umwelt (z.B. Deutschland).
In einem Rock’n’Roll-Song sind bestimmte Merkmale – Text, Klang, Wahl der Instrumente – lose gekoppelt. Den Chromosomen entsprechen hier die einzelnen Programme: strikte Kombinationen bestimmter Formen, die aber rekombiniert werden und so zu neuen Programmen, neuen Form-Kombinationen führen können. Die Programme sind Formen, die im Medium der Musik immer aufs Neue entkoppelt und neu gekoppelt werden können. Man kreuzt (kombiniert) white sentiment mit coloured beat. Die Hälfte der Nachkommenschaft besteht aus ‘Kindern ihrer Eltern’: sie entsprechen dem elterlichen Typ – entweder white und sentiment oder colour und beat, sogenannte Parentaltypen. Sie gehören zum gleichen Programm: Rock’n’Roll. Zwei Viertel der Nachkommenschaft weichen ab: kombinieren white und beat oder colour und sentiment. Sie rekombinieren die elterlichen Eigenschaften, es sind: Rekombinanten – neue Programme (oder Stile).
Der Cool Jazz kombiniert die Ausweitung des musikalischen Materials mit melodisch weit ausholende Linien – man ist entspannt, ist “cool, ohne kalt zu sein”. Das Resultat ist eine Rekombinante, die als ‘weiß’ beobachtet wird. Die Beobachtung übertreibt, bedient sich eines Beobachtungschromosoms, das die Merkmale Farbe (weiß/schwarz) an die Form (cool/hot) koppelt. Cool Jazz ist der Gegenbeweis. Rekombiniere: Auch ‘schwarze Musik’ (was nur heißen kann: Musik, die von Schwarzen gemacht wird) kann cool sein. Darauf, dass weiße Musik hot sein kann, musste man noch ein paar Jahre warten. Bis Elvis, Charlie Rich, Buddy Holly, Bill Haley und Jerry Lee Lewis kamen.
Wenn Pop nicht nur eine bestimmte Geschichte exerziert, sondern diese Geschichte auch beobachten will, muss die Bezugnahme auf Handlungen möglich sein, die sich zeitlich festlegen lassen: „That’s Alright“ (1954), “A Hard Day’s Night” (1964), “Like a Virgin” (1984). Die strukturelle Entität namens Pop wählt eine Geschichte, die sozial überzeugt: Elvis is where pop begins. Und da die Referenz auf Handlungen sinnförmig ist, kann es nie nur um die eine, wahre Pop-Geschichte gehen – sondern es geht immer um eine ganz bestimmte Selektivität (Auswahl), die andere Möglichkeiten nahelegt: Fats Domino is where pop begins. Jazz is where pop begins. Schumann is where pop begins. Mozart is where pop begins. Alles kommt darauf an, ob eine solche Geschichte, mit Peter Fuchs: “plausibel verhandelbar” ist. Erzählen gründet auf dem Zeitschema: Erst dies, dann das. Die andere Seite der Form ist das Nicht-Sequentielle – die Gleichzeitigkeit.
Wie aber sequenziert man, übersetzt man die Simultaneität in ein Nacheinander? Indem man Handlungen wie “That’s All Right” isoliert, herausbeobachtet aus dem Strom passierender Ereignisse – eine permanente “Konkretion” (Fuchs), die Ereignisse in Handlungen verwandelt und durch diese Zuspitzung Sequentialisierung ermöglicht. In der Folge entsteht eine irreversible Geschichte. Was sich auf diese Weise erzählen lässt, ist aber weder beliebig, noch Wiedergabe dessen, was ‘tatsächlich’ geschehen ist. Die Erzählung ist nicht mehr als ein Mitteilungsformat – und jeder Anfang ein Mythos.Wer danach fragt, wann Jazz begonnen hat, dem helfen auch alte Schallplatten, etwa von der Original Dixieland Jazzband aus dem Jahr 1917, nicht weiter. In dem Moment, in dem Jazz als Jazz beobachtet wird, hat er ja immer schon angefangen.
Die These ist, dass sich Jazz im Medium der New Orleans Brass Bands entwickelte. Sie boten einen günstigen Nährboden für Rekombinationen – einen Spielraum, der sich nutzen ließ. Diese Bands spielten in der Regel bei langen Paraden, und weil den Musikern – die über keine musikalische Ausbildung verfügten – die immergleiche Reproduktion einer bestimmten Melodie irgendwann zu langweilig wurde, begannen sie zu improvisieren, die Melodie zu variieren. Das Variieren selbst wurde seligiert – und als ‘Jazz’ markiert. Der erste berühmte Jazzmusiker heißt Buddy Bolden, aber Aufnahmen existieren keine von ihm. Man orientiert sich an dem Jahr, in dem Bolden seine Band gründete: 1895. Es gilt auch als Gründungsjahr des Jazz.
Der erste Unterschied (Jazz/Rest) ist also gesetzt. Alles was folgt, geschieht im Lichte dieses Anfangs, sind Raffinierungsprozesse: Unterschiede, die auf Unterschiede treffen, Unterschiede die brechen, re-kombiniert werden, Unterschiede, die tradiert (vererbt) werden.
Zunächst ist Jazz nur eine regionale Musikform: New Orleans Jazz. Verbreitungsmedien sorgen dafür, dass lokale Grenzen überschritten werden können – dass Jazz seligiert werden kann. Das Tempo nimmt zu. In einem Zeitabschnitt von etwa fünfzig Jahren differenziert sich eine Vielzahl unterschiedlicher Stile (Äste) aus. Neben den New Orleans Jazz treten Dixieland, Swing, Bebop, Cool Jazz, Hard Bop, Soul Jazz, Avantgarde Jazz (Modal Jazz, Free Jazz usw.).
Am populärsten ist Jazz in der Swing-Ära. Der Grund liegt auf der Hand: it put an emphasis on the beat. Jazz war – auch – “dance music for teenagers”. Auf die Irritation der Umwelt (Entertainment tax) reagiert der Jazz mit kleineren Ensembles – auf dem Weg zu größerer künstlicher Freiheit kommt ihm schließlich der Beat abhanden. Weshalb die Teenager zum R&B wechseln – einem Backbeat, den man nicht verlieren kann. Die Popularität des Acid Jazz verdankte sich dieser erneuten Betonung des Beats, der Unterstützung des offeneren Jazz-Beats durch Funkrhythmen.