Kunst und Pop

Aus Sicht der Ästhetik ist Kunst die Abweisung des auf das Vergnügen der Sinne reduzierten Vergnügens. Denn das Genießen behagt hier nur der Wahrnehmung bzw. den Sinnen, mit Kant: »mittelbar aber, d.i. durch die Vernunft, die auf die Folgen hinaus sieht, betrachtet, missfällt« es. Die Folgen: Man verliert sich im Objekt, die Distanz zwischen Vorstellung und Vorgestelltem wird aufgehoben. Diese Rückkehr auf die Stufe der Animalität und der Körperlichkeit gilt es zu bekämpfen: »Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.« (Schopenhauer) Das, was durch sinnliche Attraktivität in Leibnähe rückt, ist zu verneinen. Kunst ist so gesehen alles andere als eine pleasure technology (Pinker). Andacht – bzw. deren säkularisierte Form: Konzentration, Sammlung – geht notwendig auf Abstand zum Körper. Sie ist nur mit dem Bewusstsein zu leisten, weshalb Adorno »Schlager und beat« – die »Gattung der Konsumentenkunst« – gleichermaßen ablehnt. Der Zweck der Musik ist hier negativ bestimmt, es geht um die Nichtbefriedigung von Bedürfnissen, um ein Vorenthalten durch vorschnelles Entgegenkommen. Einem andächtig lauschenden Hörer sind die Äußerungen eines Mozart oder Beethoven nicht eine Lustquelle. Komponieren gleicht eher einer Art Trauerarbeit, sie ist eine in Töne übersetzte Lust-Hemmung, die bereits die Sakralmusik praktizierte: Zölib-Art. Dem sinnlichen Lustgefühl darf man den Geist nicht ausliefern. Aufgabe und Zweck der Kunst sei nicht, so auch Hegel, »die schlummernden Gefühle, Neigungen und Leidenschaften ALLER ART zu wecken und zu beleben, das Herz zu ERFÜLLEN«, den Menschen »alles durchfühlen« zu lassen. Eine solche ganz formelle Aufgabe führe zur Beliebigkeit ihrer Inhalte: zu Trivialität. Kunst soll nicht nur durch Anschauung und Vorstellung beeindrucken, sondern sinnliche Darstellung der Wahrheit sein.

Bereits in den sogenannten >Coon<-Songs der Minstrel-Shows ist explizit von kulinarischen Genüssen aller Art die Rede, widmete man sich den Gaumenfreuden von Hühnern, Schweinskoteletts und Wassermelonen. Die rein ästhetische Betrachtung wird dadurch aufgehoben, dem Zweck der Kunst entgegengearbeitet. Im Pop wird nicht sukzessiv dekodiert – man lässt es sich schmecken: »Mmmh! Lecker!« Weshalb Dick Clark wenig davon hält, ästhetische Maßstäbe an sie anzulegen: »That doesn’t mean it’s good or it’s bad – that’s the equivalent of arguing the merits of hot dogs versus hamburgers.«

Die Betonung der Kunst liegt auf einer anderen Verwendung von Wahrnehmung, die Forderung lautet: Irritiere! Die Pop-Selektivität ist anders organisiert, sie stellt andere Anforderungen, sie kommt »leicht, biegsam, mit Höflichkeit« (Nietzsche) daher. Pop ist Kommunikation, die im Gegensatz zur Kunst »am Wahrscheinlichwerden des Unwahrscheinlichen das Gelingen dieses Vorgangs, nicht den Widerstand, den er überwinden muss, akzentuiert« (Dirk Baecker). Kunst widersteht dem normalen Zugriff, Popmusik macht ihn möglich. Ihre Formen fordern nichts, sie geben. Der Hörer kann auf elementare, primitive Stufen der Lust regredieren, sich an einer leicht faßlichen Melodie, einfachsten rhythmischen Schemata, eingeschliffenen Gefühlsgesten erfreuen. Und selbst bei sogenannter >anspruchsvoller< Popmusik halten sich die Anforderungen in Grenzen – denen der Wahrnehmung.

Popmusik profitiert davon, dass die Psyche in ihrer Disposition für Aufmerksamkeit irreflexiv operiert. Wahrnehmung denkt nicht nach, sie lässt sich faszinieren. Genau deshalb ist der Kunst ein Forcieren des Auffälligen spätestens seit dem 17. Jahrhundert suspekt. Pop reitet auf den Weltgewissheiten der Wahrnehmung, Kunst irritiert sie: »man stutzt. man versteht nicht. spannung entsteht, und lust im nächsten augenblick, wo es sich vielleicht klärt. oder genau nicht« (Rainald Goetz). Es geht darum, durch die Formwahl Kontingenz zu blockieren, nicht darum, sie sichtbar zu machen und die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was man stattdessen wahrnehmen könnte. Ein Beat, eine Melodie, eine Songzeile muss unmittelbar, auf Anhieb überzeugen und sich an die Stelle möglicher Alternativen setzen: »If a song is really great … you shouldn’t really notice what’s going on, like key changes or tempo changes« (Paul McCartney). Dies ist die Stimmigkeit des Pop. Das Ziel ist ein »Ja! Ja! Ja!«, ein »Hey, super«, kein: »Die Introduktion des Riffs gemahnt an eine ähnliche Situation in Stairway to Heaven. Musiker und Hörer müssen hier still Atem schöpfen.«

Dass es dennoch Songs und vor allem Platten geben mag, die ein mehrmaliges Hören voraussetzen, ändert daran nichts. Sie verdanken sich den im Verlauf der Evolution einsetzenden Raffinierungsprozessen. Man schreibt auch weniger überzeugende Formen in das Popmedium ein, aber gibt auch diese Formen, gibt Emerson, Lake & Palmer, Harper’s Bizarre und The Mars Volta eine Chance.

Kunst hat die Herstellung von Kontingenz im Sinn, Pop nutzt die Sicherheiten der Wahrnehmung, um sie zu blockieren. Damit das möglich ist, bedient sich das System unterkomplexer Formen, die entweder unmittelbar überzeugen (Hit) oder in ihrem Versuch, zu überzeugen, scheitern (Flop). Nicht der Nachvollzug komplexer Formentscheidungen, sondern der Mitvollzug einfacher Unterscheidungen steht im Mittelpunkt, das Aufgehen in der kommunizierten Form selbst: »the experience itself, of just hearing the music or experiencing the film is the thing« (John Lennon). Der Akzent liegt nicht auf der Architektur des Geschehens – Ouvertüre-Hauptgang-Finale furioso –, sondern auf der Praxisgegenwart des Musikmachens und -hörens selbst.

Das Kunstwerk ist eine »Beobachtungsvorlage«. Verweisungen auf Nichtkunst werden mitbenutzt, aber nur, um zu zeigen: Das Material lässt sich auch anders verwenden. Pop dreht das Verhältnis um: Verweisungen auf Kunst werden mitbenutzt – aber nur, um zu zeigen: Es geht auch anders, das Material lässt sich »verpoppen«. Ja, Worte lassen sich anders benutzen, Töne anders sequenzieren, aber von diesen Möglichkeiten wird im Pop kaum Gebrauch gemacht. Die Ordnung von Pop, so unwahrscheinlich sie ist, beweist ihre Wahrscheinlichkeit gegen die Unwahrscheinlichkeit einer nur dem Selbstzweck gehorchenden Kunst. Pop sortiert also wie die Kunst Beobachter, aber die Beobachtung zweiter Ordnung macht hier in der Regel nicht auf die eigene Unwahrscheinlichkeit aufmerksam, so unwahrscheinlich Formenkombination wie Ice Ice Baby, Manic Monday oder Genie In A Bottle auch sein mögen. Mit einer gekonnten Resolutheit vernichten Pop-Songs den eigenen Auswahlcharakter: »Alles nimmt seinen Platz ein.« (Luhmann)

Wird die Musik zu anspruchsvoll, macht also Beobachtungsansprüche geltend, kehrt die Kontingenz zurück. Guter Pop – im Sinne von: Pop, der die Funktionsbedienung ermöglicht – zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er nicht anstrengt, nichts riskiert. Hier könnte ein Grund dafür liegen, dass viele US-Radiosender Soli aus ihrem Programm verbannen. Sie fordern dazu auf, die Musik zu beobachten, sei es die technische Virtuosität der Musiker, sei es deren Einfallsreichtum. Die Frage ist dann stets, ob sich ein Solo durch leichte Fasslichkeit auszeichnet, also primär an die Wahrnehmung richtet – etwa als simple Variation der Melodie – oder dafür sorgt, dass sich das Bewusstsein als denkendes in den Blick kommt. Im Pop geht es darum, dass der Hörer bei der Stange bleibt und nicht in den Horizonten des auch sonst noch Möglichen herumirrt. Die Triftigkeit eines Pop-Songs besteht in der Vorhersagbarkeit. Gerade das Unvorhersagbare, Schablonenlose signalisiert Kontingenz und damit Selbstreferenz.

Schriftfilme

Wer liest, sucht nach anderen Unterschieden als jemand, der wahrnimmt. Zwar bleibt Schrift, genau wie Sprache, auf Wahrnehmung angewiesen, ist aber im Gegensatz zu ihr inhärent sequentiell. Zwei oder drei gleichzeitig gezeigte Gegenstände wahrzunehmen bereitet uns keinerlei Schwierigkeiten, aber wer an die Informationen in drei gleichzeitig gezeigten Sätzen anschließen will, muss an drei Orten gleichzeitig sein. Die sprachförmige Bearbeitung von Wahrnehmungseindrücken ist an eine zeitliche Sequenzierung gebunden, der Kompaktsinn der Wahrnehmung wird in ein Nacheinander auseinandergezogen – „I-think-there-is-something-dangerous-going-on-here“ – und begegnet im gleichnamigen Bild von Ed Ruscha doch als Gleichzeitigkeit oder „Gesamtbild“: auf einmal. Während das gesehene Bild den Blick auf die Vollkomplexität dessen lenkt, was gerade wahrgenommen wird, lenkt der gelesene Satz den Blick auf ein Vorher (auf das, was schon gelesen und geschrieben wurde) und ein Nachher (auf das, was noch gelesen oder geschrieben werden wird). Die Vollkomplexität und Kontinuität der Wahrnehmung und die Schärfe und Diskontinuität des Zeichengebrauchs kommen sich in die Quere.

Das lässt sich anhand des Spots von Heike Sperling für Gauloises illustrieren. Der Film konfrontiert den Betrachter mit mehreren Laufzeilen, so dass er (der Betrachter) entweder gezwungen ist, sich für einen der drei Scrolltexte und damit für die Sequentialität zu entscheiden, oder aber den Blick zu richten auf die Fülle des durch die Wahrnehmung gleichzeitig Vermittelten. In diesem Moment liest er aber nicht mehr, sondern nimmt nur mehr die scheiternde Mitteilungsabsicht wahr, deren Scheitern die Bedingung für das Wahrnehmenkönnen darstellt und so ein Gelingen des Films erst möglich macht. In den meisten Fällen wird das Resultat ein Oszillieren zwischen Sehen und Lesen sein, ein fortwährendes switching zwischen den Ebenen, bis der Blick zuletzt zu flimmern beginnt – und man das Handtuch wirft.

Zwar gilt das Woher-Wohin der Sprache auch für die Wahrnehmung. Nicht nur wer liest oder zuhört, auch wer einen Film sieht, muss in der Lage sein, rückwärts zu sehen, das bereits Verarbeitete im Lichte des später Kommenden neu zu verstehen. Man sieht, wie ein Taxiwort durch Buchstabenschluchten rast und richtet sein Sehen entsprechend ein. Genau das aber geschieht in hohem Maße unbewusst. Das Bewusstsein erweist sich hierfür schlicht als zu langsam. Folgerichtig setzen viele Schriftfilme auf starke Kontraste und auffallende Gestalten, auf Ereignisse, die eine minimale Dauer haben – paradoxerweise mit Hilfe jener Stabilitäten, die wir als Worte kennen.

Noch wichtiger ist vielleicht ein zweiter Unterschied. Denn im Gegensatz zu Wahrnehmungen lassen Sätze sich verneinen. Anders als bei einer normalen Kommunikation hat der Zweifel im Falle der Wahrnehmung aber keine Chance, denn man kann zur Wahrnehmung eines Cadillacs nicht ja oder nein sagen. Mag der Leser auch der Überzeugung sein, dass Heike Sperling mit der Feststellung „Achtung. Es geht los“ einer Fehleinschätzung aufsitzt, verneinen lässt sich der Satz erst im Nachhinein: nachdem man ihn gelesen hat.

Ein Bild zeigt, was es zeigt, kompakt. Es kann mit Henri Bergson als Verdichtung von Wahrnehmung begriffen werden. Ein Zeichen dagegen ist ein Subtraktionsverfahren, es zieht etwas ab. Die meisten Schriften starten als Piktogramme, als „rudimentäre Bilder“, die mit ihrer Bedeutung – der De-Notation – etwas gemeinsam haben. Im Laufe der Evolution koppelt sich das Zeichen mehr und mehr von allen in der Wahrnehmungswelt auch möglichen Sinnverweisungen ab und isoliert die Unterscheidung von Bezeichnetem und Bezeichnendem. Zwischen beiden besteht seitdem keine natürliche Beziehung mehr. Was aber, wenn das Wort Taxi plötzlich durch Straßenschluchten aus Buchstabenhäusern rast? Wenn die Bezeichnung sich mit einem Mal aufführt wie das durch sie Bezeichnete? Wenn das Wort Hund anfängt zu bellen, das Wort Kuss selber küsst? Dann werden aus Worten wieder Bilder. Die abstraktive Relevanz (Bühler) der Schriftzeichen wird ergänzt durch die – dank des Designs heute allgegenwärtige – Relevanz der Konkretion, die aus Zeichen erneut Gegenstände macht und so den evolutionären Prozess der Schrift umkehrt.

Schriftfilme machen uns darauf aufmerksam, dass Bilder und Zeichen gemeinsame Wurzeln haben, dass Zeichen das abstrahieren, was im Bild als konkrete Abstraktion seinen Niederschlag findet. Wer Auskunft über ihren spezifischen Charakter geben will,  muss die Frage beantworten können, welche Rolle Schrift als Körper in diesen Filmen spielt, wie die Worte in ihnen als Bilddinge in Erscheinung treten. Die Strategie der Schriftbilder Ed Ruschas etwa ist es, die Sinnimmanenz durch die Wahl des Materials zu konterkarieren. Der Künstler schreibt mit Blut auf Satin, mit Schießpulver und Pastell auf Papier, mit Brombeersaft auf Moiré, um der Leere des Sinns mit der Sinnlichkeit des Materials zu begegnen. Die Buchstaben »körpern« oder »dingen«. Der Effekt ist ein doppelter. Auf der einen Seite wird Wahrnehmung eventualisiert: Schießpulver ist mit einem Mal kein Treibmittel für Waffen mehr, sondern wird zu einer utterance, die sich verneinen lässt. Auf der anderen Seite wird Schrift de-arbitrarisiert – das Bezeichnende gleicht wieder dem Bezeichneten.

Auch ein Schriftfilm kommuniziert kompakt. Schrift soll in diesen Filmen ja nicht beobachtet werden, wie sie normalerweise beobachtet wird. Vielmehr geht es darum, ein nicht-normales, irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation zu etablieren, um so das Sehen (und das Lesen) selbst sichtbar zu machen. Ein paradoxes Unterfangen, weil der Bereich der Kommunikation ausgerechnet mit Hilfe von Zeichenketten über das bloß Sagbare hinaus erweitert wird: Man benutzt Sprache, um der strikten Anwendung des Ja/Nein-Codes der Sprache zu entgehen! Natürlich kann man über einen Schriftfilm oder über die „holopoetry“ Eduardo Kacs sprechen, kann die in ihnen realisierte Verflüssigung des Sinns, die Erzeugung organischer Buchstabenminiaturen problematisieren – und genau das geschieht. Ein Text wie dieser nutzt den Gegenstand Schriftfilm dann zur Bifurkation. Er dient als Ausgangspunkt für weitere Kommunikation. Die Schriftfilm-Kritik etwa spricht über gute Schriftfilme (die theoretisch fundierte new media poetry von Eduardo Kac) im Gegensatz zu schlechten (das Pennebaker-Cover von Wir sind Helden) und leitet so eine abzweigende Kommunikation ein, die ein Thema bilden kann, zum Beispiel: Schriftfilme als das Ende des Gegensatzes von Kunst und Unterhaltung. Auf diese Weise kann weitere Kommunikation stimuliert werden. Zur bloßen Wahrnehmung eines Schriftfilms muss dann etwas anderes hinzukommen, der Film muss verstanden werden, und dieses Verstehen wird als geistiges Geschehen begriffen. Es geht keineswegs nur darum, mitzuschwingen. Oder hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen: „Brooklynbridge“, super! Aber Kommunikation über Schriftfilme ist eben nicht dasselbe wie die Kommunikation durch sie. Ein Schriftfilm engagiert den Beobachter mit Wahrnehmungsleistungen, die diese sprachtypische Bifurkation des »ja oder nein« gerade vermeiden, und das gelingt ihnen durch eine Choreographie der tanzenden Lettern, durch Worte, die aus der Reihe tanzen, denen etwas zustößt, die auftauchen und absinken und derart den eigenen Zeichencharakter und die damit normalerweise verbundene Statik eines Schwarz-auf-Weiss verneinen. Die Bewegung der Buchstaben verwandelt den gesamten Bereich der schriftlichen Kommunikation in einen wahrnehmbaren Sachverhalt, der nicht mehr mit den Mitteln der kritischen Lektüre zu ordnen ist. Die Ja/Nein-Codierung versagt. Man kann negativ berührt sein, wenn Kac uns in seinem Holopoem „Lilith“ etwas über das Patriarchat beibringen möchte, aber im Gesamtkomplex der Wahrnehmungen seiner fluid signs – etwa der ständigen Transformationen von HE: HELL, EL, ELLE – geht es nicht um die klare Distinktion von Annahme oder Ablehnung: HE ja, HELL nein. Sondern um das Bildgeschehen, um die Bildsamkeit der Lettern selbst. Die explosionsartige Fragmentierung des Wortes „Limbo“ in einem computergenerierten holographischen Stereogramm oder der digitale Buchstabensalat in „Amalgam“ lassen sich genausowenig verneinen wie die Wahrnehmung der Buchstaben auf dieser Seite. Man sieht, was man sieht: stabile oder instabile – blaue, gelbe, rote, kreisende, geradeausfahrende oder explodierende – Zeichen. Die Sicherheiten, die wir im Bereich der Wahrnehmung haben, können von den Filmen so für eigene Zwecke in Anspruch genommen werden. Das Ziel: ein Nein von vornherein zu vermeiden, sei es durch den wahrnehmungsadäquaten Schnitt, durch Klangeffekte oder kurzfristige Aufmerksamkeit bindende Spezialeffekte, sei es durch das Herabdimmen des Informationsaspekts. Denn da sich das kommunikative Ereignis eines vorbeiflitzenden Buchstabentaxis oder die Verwandlung eines Wortes wie HE in ELLE nicht zuverlässig bestimmen lässt, da Schriftfilme auf die Kommunikation von Bruchstücken setzen – was besonders deutlich wird, wenn sie die bruchstückhaften lyrics eines Pop-Songs visualisieren –, werden die Verstehensanschlüsse auf die Seite der Mitteilung verschoben.

Nun lässt sich ein Film, der nicht über etwas informiert – und sei es über die Länge eines Cadillacs –, kaum als Kommunikation begreifen. Umgekehrt muss jede Information sich in ein Wie verwandeln können, soll die Kommunikation Effekte haben. Die sogenannte literale Semantik stellt das Was in den Mittelpunkt, die übermittelte Information, die emotive das Wie der Übermittlung. Diese Extrempunkte wirken wie Attraktoren. Im Literalismus ist die Referenz des Kunstwerks bedeutungsträchtig, die ästhetische Selbstreferenz erscheint hier marginalisiert. In einer etwas anderen Sprache könnte man auch sagen, ein Schriftfilm wird hier nicht für voll genommen; man begreift ihn lediglich als sinnlich-genießbare Ausstaffierung einer Botschaft: end of print.

Auf der Ebene der Operativität, die dafür verantwortlich ist, entsprechende Anschlusspräferenzen auszuprägen, gibt es einerseits den Versuch, Kommunikation rauschfrei zu stellen, eine gewisse Informationsdichte und Mitteilungsarmut zu inszenieren, und andererseits die Möglichkeit, sich für die Mitteilungsseite zu entscheiden, indem man die Notwendigkeit, etwas sagen zu müssen, exzessiv minimiert. Die aufklärerische Kommunikationsform rückt die Informativität ins Zentrum und lässt eine Welt vernünftiger Subjekte entstehen, die sich verständigen, sei es über Schriftfilme oder über den Gegensatz von Wahrnehmung und Bewusstsein; auf der Gegenseite befindet sich die artistische Kommunikationsform, hier wird die Mitteilung ins Zentrum gerückt, also wie eine Information traktiert (Vgl. Peter Fuchs, Moderne Kommunikation). Die Konsequenz: Verstehensleistungen werden in Richtung Verstehen von innerpsychischen Vorgängen gelenkt, durch die Fremdreferenz (z.B. die Information über ein Printende) wird auf Absichten von Personen durchgerechnet. Dann will uns David Carson für das bevorstehende Ende der Buchdruckgesellschaft sensibilisieren, dann sucht ein Eduardo Kac unablässig nach Darstellungsmodi, die der cineophilen und dynamischen Wahrnehmungsweise der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft entsprechen – und so weiter und so fort. Da es sich in beiden Fällen um operative Kommunikationsformen handelt, steht in dem Moment, in dem eine dieser Formen angeschaltet wird, alles entweder unter dem Gesetz der Aufklärung oder dem der Kunst. Aufklärerische Kommunikation dockt vornehmlich an der Informationsseite, hier geht es darum, was in einem Schriftfilm gesagt wird. Darum, dass sie Wahrnehmung und Kommunikation gegeneinander ausspielen. Darum, dass Buchstaben plötzlich ein Eigenleben entwickeln, die Arbitrarität der Zeichen lustvoll zurückgenommen wird. Doch die für Schriftfilme typische Selektivität der Differenz von Information und Mitteilung kann kaum erfasst werden durch die Referenz auf die Kommunikabilien. In vielen dieser Filme werden die Wörter so schnell eingeblendet, dass die Wahrnehmung kaum zu folgen vermag, vom Denken ganz zu schweigen. Im erwähnten Film von Heike Sperling geht es nicht um um readability – sondern um das Gegenteil. Was nicht heißt, dass es nicht etwa informativere Schriftfilme gibt, die sich also etwas näher an der Informationsseite befinden; Filme, die Geschichten erzählen oder die über andere Filme berichten, die – eigene – inhaltliche Leere beklagend; Musikvideos wie Sign O’ The Times von Prince. Aber wer besagtes Video als Traktat zu lesen versucht, also an dessen Informationsgehalt andocken möchte, hat das Problem, dass die Form der Mitteilung hier über den Anschluss entscheidet: wie die Information aussieht, sich mitteilt – ihr Look.

Schriftfilme setzen auf die Seite der Mitteilung. Sie kommunizieren, dass es auf die mit Hilfe der Schrift mitgeteilte Informationen nicht ankommt – und dass es genau darauf ankommt. Der Spot von Sperling sabotiert die eigene Informativität, die er als Vorwand nutzt, um die Mitteilungsseite zu betonen (das Minimum an Fremdreferenz, das er prozessiert, lautet schlicht: Gauloises). Auch im Video zu The Child wird der Sinn der Selektivität „Veryverylongcadillac“ nicht durch den „Veryverylongcadillac“ zugewiesen, sondern durch die Darstellung: das sehr, sehr lange Cadillacwort, das sich durch eine imaginäre Buchstaben-Metropole bewegt. Pointiert wird nicht die Fremdreferenz der Mitteilung, sondern deren Selbstreferenz. Es geht nicht darum, die Zuschauer über urbane Zusammenhänge zu informieren. Was genau ein Schriftfilm sagt, ist demnach kaum zu sagen – vor allem dann, wenn zusätzlich noch Musik im Spiel ist. Und doch weiß man genau, wovon ungenau die Rede ist: nicht von einer französischen Zigarettenmarke, sondern von den Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung, von der Literalität der Schrift, ihren emotiven, bildhaften Qualitäten. Ja, Schrift spielt die Hauptrolle. Aber nicht das, was sie sagt, sondern sie selbst als Möglichkeit des Sagenkönnens steht im Mittelpunkt, die Plastizität der Lettern, ihre Bildsamkeit – die Tatsache, dass sich etwas bildet und umbildet, dass Schrift geschieht.

Hinter den „disruptive events“ eines Eduardo Kac blitzt das Medium auf, das sich uns nur im Transit, im Übergang von einer Form zur nächsten zeigt.  Normalerweise nimmt man Schrift nicht als Medium wahr, sondern nur die Form, die seine Elemente koordiniert. Man liest keine Buchstaben, sondern Worte:  ‚gebundene’ Schrift. Das Medium wird also indirekt erschlossen, es lässt sich nicht direkt beobachten. Wir können nur die Formen beobachten, auf denen es aufruht. Schriftfilme inszenieren eine Art schriftlicher Ekstasis: ein Außersichsein der Schrift. Sie können als inszenierte Form-Katastrophen begriffen werden. Sie zeigen auf das Medium, in das sich die unterschiedlichen Wortformen  einprägen. Das Medium Schrift selbst wird sichtbar, aber eben nur als Form. Dass die einzelnen Textzeilen des Films von Heike Sperling darüber hinaus auch noch über das sprechen, was der Film erschwert, das Lesen nämlich, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Filmemacherin weiß, was sie tut: Lesen durch Texte zu sabotieren.

Mitgliedschaft

Mit der Regelung von Eintritt und Austritt in DFB, DFL oder einen bestimmten Verein sind bestimmte strukturelle Fundamentalentscheidungen verbunden. Die strukturelle Charakteristik zeigt sich vor allem in der Kombination und Trennung unterschiedlicher Rollen. Wer den Spielern sagen möchte, wo es langgeht, und wer sich sagen lassen möchte, wo es langgeht, weil er Geld dafür bekommt, muss zunächst einmal Mitglied eines Vereins sein. Die Mitgliedsrolle erschließt den Zugang zu allen anderen Rollen im Fußball, seien sie formaler oder informeller Natur. Denn natürlich sind längst nicht alle Erwartungen und Handlungen im Fußball formal organisiert.

Wer als Trainer, Funktionär oder Spieler arbeiten will, muss sich an einer Vielzahl unterschiedlicher Erwartungen orientieren können, an bestimmten kulturellen Typen genauso wie an situationsgebundenen Unterstellungen, an Kontinuitätserwartungen und Diskontinuitätserwartungen, an Erwartungen, die auf Regel-, und an Erwartungen, die auf Personenkenntnis beruhen. Der Trainer des FC Bayern geht davon aus, dass das Trainingsgelände an der Säbener Straße sich auch morgen noch an der Säbener Straße befindet, dass er sich auf seine Spieler – mehr oder weniger – verlassen kann, dass die Trikots halten und die Schuhe nicht bei der ersten Ballberührung auseinanderfliegen. Das Gleiche gilt natürlich auch für den Fan, der Fußball nicht als Arbeit, sondern – im Gegensatz zum Fan-Beauftragten – als Freizeitvergnügen begreift. Von diesen konkreten Handlungen, die durch unterschiedlichste Verhaltenserwartungen geordnet sind, muss die formale Organisation als eine Teilstruktur des Fußballs unterschieden werden.

Der Vorteil dieser Unterscheidung liegt darin, dass sie auch die Berücksichtigung latenter Rollen und Funktionen erlaubt, also jener Dinge, die den meisten Fußballakteuren gar nicht bewusst sind. Die formale Norm allein kann einen komplexen Handlungszusammenhang wie Fußball kaum erklären. Sinn und Entfaltungsmöglichkeiten formaler Erwartungen müssen im Kontext “faktisch gelebter Sozialität” (Luhmann) gesehen werden. Und die kennt eine Vielzahl unterschiedlicher, nicht auf Lohn und Strafe zurückgehender Motive, kennt irrationales Verhalten, kennt emotionale Indifferenz gegenüber Zwecken und Vorgesetzten. Die Realität des Fußballs besteht in dieser Faktizität der einzelnen Handlungen – hier die soziale Integration, dort die persönliche.

Handlungen und Erwartungen haben für den Fußball dabei eine andere Funktion als für den einzelnen Spieler. Was ein Philipp Lahm als Spieler des FC Bayern München tut, dient nicht einfach seiner Selbstdarstellung. Er muß auf die Rationalität des Vereins mit eigenen Formen der Selbstrationalisierung reagieren, er muss in der Lage sein, Gefühle zu vertagen, Ausdrucksbedürfnisse zurückzuhalten, Interviews nicht oder anders zu geben, er muss Vereinsinteressen und solche der eigenen Person koordinieren können. Das ist nicht immer leicht. Von einem Fußballspieler des FC Bayern München wird ja nicht nur verlangt, etwas ‘beizutragen’ (Tore, Flanken usw.). Sondern auch ein bestimmtes verbales Verhalten, das die formalen Erwartungen stützt und zuletzt ihre Institutionalisierung möglich macht. Ein Philipp Lahm muss die Ziele und Zwecke des FC Bayern München gutheißen, er muss die Entscheidungsrechte der Vereinsführung anerkennen und alle formalen Regeln achten und bestätigen. Auch dann, wenn es gar nicht um das eigene Verhalten geht.