Pop besteht aus Songs, das heißt aus Ereignissen, und ein Ereignis ist kein Objekt. Ein Song dient eigens dem Zweck, Kommunikation zu provozieren: den nächsten Song.
Songs sind also nur aufgrund von Songs möglich. Sie haben keinen anderen Sinn, als weiteren Songs den Boden zu bereiten. Die besondere Leistungsfähigkeit der Songs ist die Ermöglichung von Beobachtungen im Zeitvergleich für die an Pop beteiligten Systeme: Psychen, Bands, Plattenfirmen, Wirtschaft, Massenmedien, Recht und Politik. Diese Bindung aller Pop-Vorgänge an die Songs bzw. an die Song-Funktion ist elementar, genauso elementar wie der Song selbst. Er reduziert die Beliebigkeit dessen, was absehbar ist, reguliert die Erwartungen und sichert so die Einheit des Systems, dessen Grenzen immer dann aufscheinen, wenn sich die Fortsetzbarkeitsbedingungen der Kommunikation ändern, an einen Song beispielsweise nicht mehr mit einem Song angeschlossen wird, sondern mit einem Gerichtsurteil.
Insofern gleicht unsere Analyse der Diskursanalyse Michel Foucaults: Auch wir behandeln die Songs (bei ihm: die diskursiven Tatsachen) nicht als autonome Kerne vielfältiger Bedeutungen, sondern als Ereignisse und funktionelle Elemente, die ein sich allmählich aufbauendes System bilden. Der Sinn eines Songs ist dann nicht definiert durch die in ihm enthaltenen Intentionen, sondern durch die Differenz, die ihn an andere Äußerungen (Songs) anfügt. Das nichtkommunikative psychische Erlebnis von Nessun dorma oder das nichtbewusste, nichtkommunikative Überlegen beim Komponieren – man schreibt ein zweites Stairway to Heaven und nennt es Let It Grow – spielt zwar eine Rolle. Nur eben nicht für Pop! Das System besteht nicht aus Gedanken oder Gefühlen. Was das einzelne Individuum fühlt, bleibt hinter all dem verborgen, was hier aufgenommen und verarbeitet wird. Es ist die Reproduktion von Songs, die das System am Leben erhält.
Eine Song-Kommunikation ist ein zeitkleines Ereignis, das, sobald es vorkommt, wieder verschwindet: zeitpunktfixiert, nur an einer Zeitstelle verfügbar. Wesentlich zeitkleiner als ein 3-Minuten-Song, wesentlich zeitkleiner als ein »Yeah« – und im Gegensatz zu einem »Yeah«: nicht lokalisierbar. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass man einen Song aufzeichnen kann, zum Beispiel indem man aus Pappe, Einweckpapier, Kleiderbürstenborsten und Kerzenwachs einen Phonographen baut, Hans Peter »I’m raving, I’m raving« in einen Schalltrichter hineinsingen lässt und ein Stift die Tonwellen auf die Oberfläche einer langsam an ihm vorbeigehenden Rolle überträgt. Doch auch die in die Walze eingeritzten Zeichen sind noch nicht der Song. Man muss den »eifrigen Zeiger« (Rilke) schon seinen eigenen Weg wieder verfolgen lassen, damit aus der papierenen Tüte die Stimme von Hans Peter auf uns zurückzittert, muss das Gehörte verstehen und zuletzt daran anschließen. Und anschließen muss man, soll sich ein Song in Kommunikation verwandeln! Das System muss ja von einer Operation zur nächsten kommen, will es sich reproduzieren, weiterleben, sein. Soll es im Pop-System weitergehen, erfolgt der Anschluss durch einen Song. Das Pop-System besteht aus Songs, die rekursiv an Songs anschließen und so den Pop-Eigenwert erzeugen – und dies stets aufs Neue. Kein Ereignis kann festgehalten, fixiert werden; auch der aufgezeichnete Song ist ja nicht das Ereignis, er macht nur den erneuten Zugriff, das erneute Ereignis möglich, den Anschluss an den Song, der sich wiederum nicht festhalten lässt. Bestimmte Prozesse sorgen für eine Selektivitätsverstärkung: den wiederholten Zugriff auf bestimmte Songs, bestimmte Themen, bestimmte Formen. Durch Zeit selbst, durch Rekursion, durch rekursive Schleifen, kondensiert ein System, das ist, weil es wird, und sich durch diese Verkettung abgrenzt von der Umwelt. Es kann diesen Eigenwert schließlich beobachten und sich beschreiben als Dies-und-das, und diese Beschreibung kann unter Umständen – so sie anschlussfähig ist – dazu beitragen, den Eigenwert zu modifizieren. Durch das Bestätigen und den automatischen, »bewusstlosen« Rückgriff auf bestimmte Strukturen entsteht zuletzt ein Gedächtnis; Pop wird vom Druck des Erinnernmüssens befreit und kann sorglos operieren. Das System vergisst, weil es sich nicht mehr erinnern muss, und nimmt eigene Strukturen ohne Umstände in Anspruch: selbst-verständlich.
Der einzelne Song macht die Wiederholbarkeit von Beobachtungsoperationen möglich. Man legt die Platte noch einmal auf, die Band spielt ihn ein zweites Mal: erst in Detroit, dann in Leverkusen. Durch das materielle Substrat ist die Wiederholbarkeit und das Mitsehen der Wiederholbarkeit, die Möglichkeit des erneuten Zugriffs, die Rekursivität der Rückgriffe und Vorgriffe, der Betrieb des Systems garantiert. Dabei dürfte klar sein, dass man dasselbe an einer anderen Zeitstelle anders erfahren kann – ohne deshalb Zweifel daran haben zu müssen, dass Blowin’ In The Wind nun nicht mehr der gleiche Song ist. Man legt ihn auf in der Hoffnung, dass er derselbe ist, und wird selten enttäuscht: erlebt ihn als Bestätigung, nicht als überraschende Information (es sei denn, Dylan spielt ihn live). Identität wird also nur für nichtidentische Reproduktion der Beobachtungsoperation benötigt. Dieser Unterschied lässt sich erneut anhand der Unterscheidung von Kondensation und Konfirmation genauer bestimmen. Kondensieren heißt identifizieren: Aha, Blowin’ In The Wind. Der Song bleibt auch in verschiedenen Situationen derselbe. Nur deshalb hat er einen Namen, kann er mehrfach verwendet werden, auch wenn die Antwort gerade auf der Hand liegt.
Die Operationsabhängigkeit muss also in zweifachem Sinne gesehen werden. Zum einen erzeugt das Songing – der Anschluss von Songs an Songs – als das konkret laufende Geschehen den Zustand, von dem Pop im nächsten Moment ausgehen muss; zum andern erzeugt die Operation aber auch die Strukturen, ohne die nicht entschieden werden könnte, was passt und was nicht passt, was anschlussfähig ist und was nicht, was also von dem, was bisher geschehen ist, erinnert werden soll. Das Songing hat eine Doppelfunktion: Erstens sorgt es für einen konkreten Ausgangszustand; zweitens produziert es im gleichen Moment jene Strukturen, die die Selektivität des Systems ordnen. Damit haben wir ein Ereigniskalkül an die Stelle der normalerweise üblichen inhaltlichen Antworten gesetzt. Anstatt zu fragen: »Was ist Pop?« fragen wir: »Und nun? Wie geht es weiter?«
Solange Songs an Songs anschließen, ist Pop. Das System muss in der Lage sein, ein Anschlussereignis zu identifizieren, das es über den Moment hinaus weiterbringt. Aber nicht notwendig im Sinne einer Weiterentwicklung, denn der Schritt vorwärts kann ja auch einer rückwärts sein. Sondern im Sinne einer Normalisierung des Unwahrscheinlichen. Mit Hilfe dieser Idee einer rekursiven Funktion, der autopoietischen Reproduktion von Pop, lassen sich zwei Minimalbedingungen fixieren, die für Pop wesentlich sind. Die erste lautet, dass es weitergeht. Die zweite lautet, dass das, was da weitergeht, nach wie vor als Pop erkennbar sein muss, soll es weitergehen, und nicht als etwas ganz anderes: Politik, soziale Arbeit, Wissenschaft, Terror, Sport, Kunst. Die dritte Minimalbedingung ist Bestandteil der beiden vorhergehenden: Es muss eine Art ›Cogito‹ geben, das Pop als Pop wiedererkennt. Und diese Erkenntnisleistung ist etwas, das die Reproduktion von Pop muss begleiten können, was bedeutet, dass sie ebenfalls reproduziert wird, während Pop reproduziert wird. Was Pop ist, darüber befindet kein Einzelner – auch nicht dieser Text –, darüber entscheidet Pop allein. Wir haben es also mit einer Rekursivität zu tun, die eine doppelte Schließung realisiert: eine erste Schließung auf der Ebene der Operation, der Anschlüsse von Songs an Songs, und eine zweite Schließung auf der Ebene der Beobachtung dessen, was als Pop in Frage kommt, der Strukturen bzw. der spezifischen Selektivität.