(Bild: Von Karlheinz Stockhausen mit einem Fragezeichen versehenes Notenblatt, Brief-Rückseite)
Versuchen wir, uns den Unterschied zwischen Kunstmusik und Popmusik – ehemals: E- und U-Musik – anhand des folgenden Bestimmungsversuchs von Hans Heinrich Eggebrecht zu verdeutlichen.
Was ist das, fragt Eggebrecht in seinem Buch Musik im Abendland, was an Musik „so schön“ ist? Seine Aufforderung an den Leser lautet: Denk beim Lesen an Musik, die dir etwas bedeutet, an ein konkretes Stück – welches auch immer. Am besten an eine der schönste Musiken, die du kennst.
Eine der schönsten Musiken, die ich kenne … Das ist nicht leicht. Aber wenn ich an Musik denken soll, die mir viel bedeutet, fallen mir die Beatles ein, insbesondere die Songs von John Lennon. Robert Wyatt. Marvin Gaye. Mozart. Bergs frühe Lieder! Miles Davis. Ich könnte die Liste endlos fortsetzen. Und entscheide mich stattdessen für Smoke On The Water. Als ich das Riff – in der Live-Version von Made In Japan – zum ersten Mal aus den Fenstern einer Jugendherberge dröhnen hörte, war ich von einem Moment auf den anderen hin und weg.
Stellen wir uns als erstes dieses Riff vor – besser: den allerersten Akkord, also einen Simultankomplex aus Tönen, der auf einer elektrischen Gitarre erzeugt wird. Es ist ein eigens zum Hinhören und Zuhören hervorgebrachter Akkord. Ist dieser Akkord frei von Zufall, Zweck, Naturdasein? Frei von Zufall, nicht ganz; frei von Zweck – eher nicht. Aber frei von Naturdasein, das ja. Der Akkord ist zum Hören des Akkords als Akkord gemacht – und in dieser Bestimmung ist er frei. Das zuallererst, sagt Eggebrecht, sei das Schöne an ihm. Aber handelt es sich deshalb schon um Kunst? Zunächst einmal handelt es sich fraglos um Musik.
Dieser Akkord ist in seinem Erklingen äußerst komplex – vor allem in bezug auf seine dank der elektrischen Verstärkung mögliche Dynamik. Erklänge er auf einer akustischen Gitarre, er verlöre viel von seiner Überzeugungskraft. Trotz dieser Komplexität verstehen wir ihn im Nu – unmittelbar, direkt, sofort. Sprache kann das, was dieser Akkord realisiert, als eine ‘momentan empfundene Totalität’, nur unter größten Mühen wiedergeben, muss dessen Komplexität in ein Nacheinander übersetzen … Das Wunderbare dieses Akkords – und damit der Musik überhaupt – ist laut Eggebrecht, dass hier zwei Gegensätze aufeinandertreffen, die allerdings nur als Gegensätze beobachtet werden: „die Unmittelbarkeit zur Empfindung und die rational ordnende Mathesis“. Ja, liebe Deep Purple-Fans, es geht um Mathematik – und zwar deshalb, weil die Saitenlängen abgemessen sind, und diese Abmessungen sind nun einmal eine Erscheinungsform des in Zahlen und Proportionen Gemessenen und Messbaren der Töne – „sie bezeugen das für die abendländische Musik maßgebende mathematische Moment der Tonelemente in ihrer Zugehörigkeit zu einem Tonsystem“.
Der Bass kommt dazu, das Schlagzeug setzt ein – Ian Gillan beginnt zu singen. Und fügt dem Stück zwei fundamentale Bereicherungen des Tondaseins hinzu: er verbindet den Ton erstens mit der Sprache. „We all came out to Montreux …“ Mit einem Mal befinden wir uns in der Schweiz, werden zu Zeugen der Entstehung genau des Albums, das wir gerade hören. Und: er beseelt das Riff zweitens durch das Ach! und Oh! des Empfindens, wodurch die tonsystemliche Ratio des Riffs mit dem Affekt, der Emotion menschlicher Innerlichkeit aufgeladen wird.
Die Band spielt – das heißt: sie entführt uns in eine andere, eine zweite Wirklichkeit, eben die des Spiels. Dass Blackmore das Spielerische in seinem Solo anschließend virtuos zur Schau stellt, im gleichen Moment Ratio und Ordnung hervorkehrend, mit Hilfe des Tremolohebels das emotionale Moment des Gesangs nachahmend … spielt, als ob er singe … macht uns nicht zuletzt darauf aufmerksam, dass dieses ‘Spiel’ immer auch mit dem Empfinden verbunden ist, ganz unmittelbar. Im Gegensatz zu den Orchestermusikern – die Miles Davis nicht umsonst als ‘Roboter’ titulierte – sehen wir es den meisten Gitarristen an: „den Gebärden seines Körpers, der Verzückung seines Gesichts“ – und wir fühlen das Solo über den Sinn des auf ihn gerichteten Ohrs in unsere Seele eindringend, sie bewegend, ergötzend und verzaubernd.
Die von Eggebrecht gewählte, von mir hier paraphrasierte Sprache und das von uns gewählte Beispiel wirken bei der Lektüre als Kontrast – und dafür gibt es einen Grund. Man ‘spricht nicht so’ über Rockmusik. Es ist nicht üblich. Wie vielleicht deutlich geworden sein sollte, trifft die Beschreibung Eggebrechts trotz der als unkonventionell empfundenen Wortwahl aber dennoch zu. Wie ist das zu erklären, was wirkt hier als Gegensatz, was passt nicht zusammen? Eggebrechts Bitte war, uns irgendein Musikstück vorzustellen. Dieser Bitte sind wir gefolgt, wohl wissend – oder eher: darauf hoffend – dass das Befolgen dieser Bitte uns zu jenem Unterschied führen würde, der Kunstmusik von Popmusik unterscheidet. Denn dass diese sprachliche Beschreibung mit der Empfindung, die wir beim Hören des Stücks haben, nicht mithalten kann – d’accord (Akkord!). Auch wenn wir gegenüber der „sinnlichen Beeindruckung“ durch den Song nicht so sehr ein Gefühl der Ohnmacht, sondern eher der Unzulänglichkeit empfinden: Wir haben intuitiv schon verstanden, was nun mühselig in Begriffe gefaßt wird.
Ist diese Kontrastempfindung also lediglich historisch bedingt – könnte, ja sollte man Popmusik in den Begriffen Eggebrechts beschreiben? All das, was Eggebrecht über Musik sagt, gilt ja ohne Frage auch für Smoke On The Water. Warum ist der Song ‘schön’? Weil das Schrankenlose hier in die Schranken einer Akkordfolge gewiesen wird: A C D A C Eb A C D C A?
Alles hängt am Wörtchen ‘schön’. Denn dass dieser Song ‘schön’ ist, scheint an dem, was er ist, vorbeizugehen. So zutreffend das ist, was Eggebrecht über Smoke On The Water sagt (und er hat uns ja eingangs ausdrücklich gebeten, uns irgendein Musikstück – „welches auch immer“ – vorzustellen) – den Kern der Sache (des Stücks) scheint es nicht zu treffen. Ja: Gliederung und Zusammenhang, Wiederkehr, Veränderung, sogar Entwicklung lassen sich beobachten; ebenso Hauptsachen und Nebensachen. Wenn er von ‘Durchführen und Schließen’ spricht, wird es schon etwas schwieriger. Was also ist die differentia specifica, die diesen Song, die Popmusik generell auszeichnet gegenüber dem genus proximum: Musik?
Es gibt, fährt Eggebrecht fort, im Blick auf das Erfassen von Musik deutliche Unterschiede. Weil es unterschiedliche Arten von Musik gibt. Diese Unterschiede sind funktionaler Natur. Eggebrecht nennt als Enden dieser Differenz: „unterhaltende Musik und künstlerisch anspruchsvolle Musik“. Man könnte auch sagen: künstlerisch anspruchsvolle und künstlerisch anspruchslose Musikformen. Oder noch anders: Musik, die unterhält – und solche, die es nicht tut. Was aber ist das Gegenteil von Unterhaltung?
Natürlich hilft uns der kunstmoralisch erhobene Zeigefinger hier nicht weiter: Du sollst Smoke On The Water nicht schön finden! Auch Rockmusik ist laut Eggebrecht schöne Musik, und zwar deshalb, weil auch hier das „Elementarische des Tonseins“ gegeben sei. Aber gilt das, was er im Anschluss an diese Feststellung feststellt, auch für ein Zwölftonstück von Schönberg oder einen Free Jazz-Zustand von Ornette Coleman: dass wir einswerden mit der Musik? Derart, dass das „Daseinsbewußtsein“ – „die momentane existenzielle Befindlichkeit“ – identisch wird mit der Musik? Ist ein hochkomplexes Musikstück – zum Beispiel ein Spiegelstück von Alban Berg – überhaupt dazu in der Lage, völlige Hingabe, die Auslöschung von „allem sonst“, ein Hin-und-Weg zu bewirken?
Diesen Zustand kann keine Kunst intensiver bewirken als die Musik – was Kants grundsätzliches Mißtrauen ihr gegenüber erklärt – und keine Musik intensiver als Popmusik: Kunst, die keine ist.