Wir wissen nichts über die Motive von Uli Hoeness – und wir müssen auch nichts über sie wissen, denn sie spielen keine Rolle. Zumindest nicht aus rechtlicher Sicht. Wir müssen im Gegenteil für eine Beurteilung dieses Falls von den Motiven absehen.
Warum sollten wir?
Ganz einfach, weil die Norm ansonsten ihre Funktion nicht erfüllen kann. Hoeness hat womöglich gar nicht gewußt, dass er gegen geltendes Recht verstößt.
Ich glaube eher, dass er nicht einer Meinung war mit der Steuernorm. Dass er sie nicht für legitim hielt, mehr noch: für hoenesswidrig. Weil sie sich nicht mit bestimmten Werten seiner Person im Einklang befand. Dass er sich gefragt hat: Warum soll ich dabei mithelfen, eine solche Norm – eine Norm, die Erfolg bestraft – gegen meine massiv anders ausgerichtete Realität durchzuhalten?
Dann hätte ich ihm geantwortet: Weil du deine Freunde enttäuschen könntest, lieber Uli.
Welche Freunde?
Politiker, die mit für die Norm verantwortlich sind und bestimmte Erwartungen in dich haben. Vor allem die, dass du von ihnen mitgestaltete Normen auch befolgst.
Ich glaube, diese Freunde haben vor allem erwartet, dass er die private Seite auf der privaten lässt.
Was er durchaus ehrlich versucht hat. Aber dann kam der blöde Stern und ließ ihm keine Wahl. Er hat ja gesagt, das Zocken war wie Monopoly für ihn. Aber Gefängnis ist kein Spiel. Die Aussicht auf einen möglichen Freiheitsentzug hat ihm klargemacht, dass er nicht im Sinne des Rechts erwartet hatte, oder anders: dass er ein Recht darauf hat, verurteilt zu werden.
Ich weiß nicht. Ich würde eher versuchen, eine psychoanalytische Perspektive einzunehmen.
Und wie würdest du da vorgehen?
Du weißt vielleicht, dass Genießen laut Lacan alles andere als ein Genuss ist.
Nein, wußte ich nicht. Sondern?
Harte Arbeit. Wenn wir uns Dinge auf der Zunge zergehen lassen, tun wir nur unsere Pflicht. Uli Hoeness hätte somit beim Zocken nicht einfach irgendwelchen Neigungen nachgegeben – was im übrigen durchaus auf seiner Verteidigungslinie liegt –, das Zocken war kein Genuss für ihn, es hat ihm eher Schmerz als Lust bereitet. Er hat darunter gelitten, aber er konnte nicht anders: er musste seine Pflicht tun.
Zocken als Pflichterfüllung?
Ja. Was treibt einen Staatsbürger deiner Ansicht nach dazu, ethisch zu handeln? Steuern zu zahlen, sich um krebskranke Kinder zu kümmern?
Keine Ahnung. Irgendwelche Ideale vermutlich.
Ideale ist gar nicht so schlecht. Freud unterschied Ideal-Ich, Ichideal und Über-Ich. Lacans Präzisierung dieser drei Instanzen lautet: das Ideal-Ich steht für das idealisierte Selbstbild – für die Art und Weise, wie Uli Hoeness sein, wie er von anderen wahrgenommen werden möchte. Hierher gehören sämtliche in der Öffentlichkeit gemachte, für sie gedachte Äußerungen. Das Ichideal dagegen ist die Instanz, die man mit seinem Ich beeindrucken möchte – der große Andere, der Hoeness antreibt, sein Bestes zu geben, das Ideal, dem er zu folgen und das er zu verwirklichen sucht. Das Über-Ich ist die gleiche Instanz, nur befindet sie sich auf der Gegenseite: es bestraft, rächt, quält. Diese drei Instanzen entsprechen genau der für Lacan so wichtigen Trias imaginär-symbolisch-real. Das Ideal-Ich ist imaginär: Hoeness stellt sich vor, wer er gerne wäre. Er schaut in den Spiegel und sieht einen braven, hart arbeitenden, keine Steuern hinterziehenden Bürger. Er idealisiert sich. Das Ichideal dagegen ist symbolisch: der Ort im großen Anderen, von dem aus er sich betrachtet und beurteilt. Das Über-Ich ist die Wirklichkeit: die Massenmedien, die Steuerbehörde, die enttäuschte Bundeskanzlerin – die grausame Instanz, die von ihm Unmögliches fordert – immer brav abführen, nie zocken – und sich über sein Scheitern lustig macht, über seine vergeblichen Versuche, das sündige Streben zu unterlassen. Lacan fügt eine vierte Instanz hinzu. Anstatt das gute Ichideal gegen das böse, grausame Über-Ich in Stellung zu bringen, verweist er auf das Gesetz des Begehrens. Das ist die Instanz, die von uns fordert, im Einklang mit unserem Begehren zu handeln. Und die Kluft zwischen dieser Instanz und dem Ichideal – den von uns internalisierten soziosymbolischen Normen und Idealen – ist laut Lacan ziemlich groß.
Ich verstehe. Die Kluft ist schuld …
So würde ich das sehen. Sein Ichideal führte Hoeness zu moralischer Reife, machte ihn zu einem fürsorglichen Club-Präsidenten. Aber um den Preis, das Gesetz des Begehrens zu verraten.
Dann war der Grund für seine Zockerei: die Akzeptanz vernünftiger Forderungen?
Ja, das ist die Idee. Das Über-Ich ist die Kehrseite dieser moralischen Reife, weil es einen nahezu unerträglichen Druck auf uns ausübt – im Namen dieses Verrats. Wir fühlen uns schuldig, weil wir von unserem Begehren abgelassen haben. Das Verbot, Steuern zu hinterziehen, ist also nicht einfach nur negativ, es ist auch positiv bzw. produktiv. Gerade weil er sich im Geschäftsleben so im Griff hatte, war Hoeness als ‘Zocker’ nicht Herr seiner Neigungen.