Die Ich-Rolle ist die vielleicht schwierigste Rolle unseres Lebens. Mancher Schauspieler mag Mühe haben, sich in einen komplizierten Charakter hineinzuversetzen, um ihn zu verkörpern – und gerade der Körper dient hier in vielen Fällen als ein beliebtes Hilfsmittel: schon durch Hochessen oder Herunterhungern kann man sich offenbar schwierigen Fremdrollen annähern. Aber nichts geht über die Schwierigkeit, sich selbst zu verkörpern. „Du kannst doch dich selbst spielen“, rät der Musiker und Moderator Olli Schulz während der Dreharbeiten für Durch die Nacht mit (ZDF/ARTE) dem Schauspieler Tom Schilling, der nicht recht weiß, wie er mit der ungewohnten Situation des permanenten Gefilmtwerdens umgehen soll. „Dazu“, erwidert Schilling, sich selbst spielend, “bin ich zu ehrlich.“ Das ist das Paradoxe: das Kunststück gelingt uns jeden Tag scheinbar mühelos aufs Neue. Hin und wieder tun sich Lücken in der Ausübung der eigenen Rolle auf, mitunter kommt es zu Konflikten mit den vielen anderen Rollen, die man uns im Laufe unseres (viel zu) langen Lebens zumutet. Das größte Mißverständnis ist vielleicht, dass wir glauben, uns diese Selbst-Rolle auch selbst zumuten zu müssen. Tatsächlich erwarten alle anderen von uns, was wir auch von ihnen erwarten: dass sie ‚sie selbst‘ sind – am besten ganz und gar, durch und durch, als Kongruenz von innen (denken, fühlen) und außen (handeln). Aber wer von uns wäre von allein auf den Gedanken gekommen, sich selbst als möglichst harmonische Einheit Tag für Tag aufs Neue zur Aufführung zu bringen? Die Selbstrolle oder Ich-Rolle erweist sich bei genauerer Betrachtung als Fremdrolle. Es ist die Gesellschaft, die von uns eine – möglichst lückenlose, konsistente – Ich-Performance erwartet. Man ruft uns auf die zahlreichen gesellschaftlichen Bühnen, und erwartet von uns, dass wir den dort zu verkörpernden Fremdrollen immer auch zumindest die Farbe einer Selbstrolle geben, dass wir also beispielsweise in der Lage sind, eine ‚eigene Meinung‘ zu äußern. Und doch: wissen alle im gleichen Moment auch, dass dieses konsistente Ich nur ein Ideal ist. Weshalb jene Menschen, die – in den Augen ihrer Umwelt – ihren eigenen Prinzipien folgen und treu bleiben („ehrlich sind“), auch wenn sie dadurch entsprechende Risiken (Kündigung, Trennung, Tod) in Kauf nehmen, von uns bewundert und verehrt werden. Der Normalfall ist diese Selbsttreue nicht, denn dann säßen viele von uns auf der Straße oder lägen tot im Straßengraben.
Wie nähern wir uns selbst diesem komplexen Geflecht von Selbst- und Fremdverhältnissen, von Ich und Gesellschaft, von Alter und Ego? Wie lässt sich die Figur der Ich-Rolle am besten erfassen? Die Antwort, die Soziologe – manche sagen: Philosoph – Peter Fuchs vorschlägt, lautet: Mit Hilfe von Geschichten. Denn gerade Geschichten sind es, die wesentlich mit dazu beitragen, einen konsistenten Selbsteindruck zu erzeugen – jene Geschichten, die wir uns selbst von uns selbst erzählen. Sie erlauben uns, ein konsistentes Ich zu erfinden. Vor uns selbst wissen wir zwar, dass diese ‚Selbstgeschichten‘ nur Geschichten sind. Andererseits sind wir, schon aus Selbstschutz, geneigt anzunehmen, dass sie mehr oder weniger der Wahrheit entsprechen. Dass wir so sind, wie wir uns das selbst erzählen. Unser Gedächtnis schickt uns freundliche Grüße, denn da wir – unbewusst – in einem fort vergessen, also aussortieren und löschen, was unserem Selbstbild Probleme bereitet und die (Selbst-)Zufriedenheit stört, zum Teil vorausschauend, also nur mutmaßend, dass es so sein könnte, müssen wir in vielen Fällen gar nicht aktiv ins Geschehen eingreifen. Schon dieser Umstand ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass wir es mit verwickelten Verhältnissen zu tun haben. Denn wieviel Selbst bleibt übrig, wenn etliche Prozesse, die zum Zwecke der Harmonisierung und Instandhaltung des Selbstbilds ablaufen, eben nicht von uns selbst, sprich: unserem Bewusstsein gesteuert sind? Es könnte hilfreich sein, Bewußtseinsprozesse als Selbstprozesse im engeren Sinne und psychische Prozesse als Selbstprozesse im weiteren Sinne zu unterscheiden. Bewußtseinsprozesse sind Selbstprozesse, an denen wir ‚pro-aktiv‘ teilnehmen, die unsere Aufmerksamkeit verlangen – psychische Prozesse dagegen wie das Erkennen von Farben und Formen laufen automatisch ab, gleichsam ohne unser Zutun. An der Erschaffung der Ich-Rolle wirken immer auch diese psychischen Prozesse mit, die sich unserer Kontrolle erziehen – von Hardware-Voraussetzungen wie Haarfarbe oder Körpergeruch oder Stimme einmal abgesehen. Wir können uns im Moment der Appräsentation unseres ‚Ich‘ nicht die ganze Zeit damit befassen, ob diese Vorführung gelingt – dann geraten wir ins Taumeln, wie der Skateboarder, der im Moment des Sprungs über dessen Ausführung nachdenkt. Wer wie Susan Blackmore mit einer knallroten Strähne im Haar und auch im Ganzen eine selbst für heutige Maßstäbe und im Wissenschaftsfeld ohnehin eher auffällige Frisur wählt, der muss damit rechnen, dass sein Verhalten an dieser Haarsträhne, dieser Frisur gemessen wird. Würde Susan Blackmore in ihrem Bewußtseinsbuch eher biedere, brave Fragen stellen, sich insgesamt durch ein vor allem buchhalterisches Interesse auszeichnen und gerade nicht: als individuelle, widersprechende, mitunter sogar etwas zickige Interviewpartnerin in Erscheinung treten, als ‚sie selbst‘ eben, ihre rote Strähne könnte leicht als Widerspruch zu ihrem sonstigen Verhalten gedeutet werden. Denn das Selbst wird stets auch an der körperlichen Erscheinung gemessen. Glatzen, Bäuche, Muskeln, Körpergeruch spielen sozusagen ebenfalls eine Rolle. Genauer: Tragen bei zum Rollenspiel. Zwar kann man durchaus, anders als Watzlawick annahm, nicht kommunizieren – ich muss nur für einen Moment still aus dem Fenster schauen. Aber sich nicht zu verhalten ist ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst wer dezidiert nicht handelt, also auf rote Strähnen im Haar verzichtet oder für einen Monat die Körperpflege einstellt, handelt ja, trifft eine Entscheidung. Jedes Verhalten kann somit als eine bestimmte Kommunikation gedeutet werden, Dinge, die einem eher unterlaufen, als Mitteilung. Ob es sich um eine Kommunikation gehandelt hat, lässt sich kaum klären. Man kann natürlich nachfragen, aber was man dann erhält, ist lediglich eine Antwort.
Heutzutage erwartet man von uns, dass wir die Fremd- bzw. Sozialrollen mit der Ich-Rolle in Übereinstimmung bringen, also Einstellungen, Gefühle und Absichten mit dem, was man im Büro, auf der Baustelle, im Krieg, beim Heiraten von uns erwartet. Den eigentlichen Bezugspunkt unserer Orientierungen bilden aber nicht unsere Selbstbedingungen – auch wenn diese sich in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher in den Vordergrund geschoben haben. Auch bestimmte persönliche Eigenschaften werden uns ja unterstellt. Wir versuchen zwar, hier von vornherein für bestimmte Unterstellungen Vorsorge zu treffen (“Bitte nehmt an, dass ich der und der bin, so wie ich es ja auch von mir annehme!”), können das Geschehen aber natürlich nicht kontrollieren. Genau das nennt man: Realität. Vielleicht muss man sogar sagen, dass auch unsere Selbsterzählungen nicht mehr sind als Unterstellungen, eine Form von Selbsthypnose. Worauf es ankommt, ist: die erlebten Situationen mittels dieser Unterstellungen – also fiktiver Annahmen – deuten zu können. Nur wenn das gelingt, festigen sich bestimmte Rollenauslegungen. Wer in einem fort beruflich scheitert, dessen von einem erfolgreichen Unternehmer handelnde Selbsterzählung wird früher oder später Schaden nehmen.