Zur „Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ“ (Walter Benjamin)
Corona hat längst die Zone des Übertreibbaren verlassen. Was man sieht oder was man zu sehen bekommt, drängt sich als härteste Realität auf, als Factum brutum, als nächste Nähe. Corona ist schlicht: Tatsache. Wenn man es dabei bewenden ließe, würden Spekulationen endemisch (wir erleben das gerade) und distanzierte Reflexionen abgedrosselt. Zu behaupten, dass die Wirklichkeit von Corona einfach die Wirklichkeit von Corona sei, hat schließlich wie jede Tautologie keinen Informationswert. Ein Weg, sie aus dem Weg zu räumen, ist es, Differenzen zu erproben, die andere und andersartige Perspektiven auf das Phänomen, das beobachtet werden soll, aufspannen. Dazu braucht es Vorbereitungen. Nützlich ist es mitunter, befremdliche oder verquere ‚Was-wäre-wenn-Fragen‘ zu erfinden, zum Beispiel diese:
Was wäre, wenn man sagen würde, Corona sei leibhaftig erschienen?
Die Eigentümlichkeit dieses ‚leibhaftig‘ besteht darin, dass mit ihm die Gültigkeit dessen, worauf es sich jeweils bezieht, in einem Zuge beteuert und dementiert wird. ‚Beteuern‘ weckt Zweifel, weil es anzeigt, dass diese ‚Bekräftigung‘ notwendig ist. Je mehr jemand schwört, dass das, was jemand sagt, wahr ist, desto mehr wächst der Verdacht, dass etwas daran nicht stimmt.
Ein Paradebeispiel findet sich im Christentum: Jesus sei, so steht es geschrieben, leibhaftig auferstanden, es gebe Zeuginnen und Zeugen, die ihn, obwohl er schon gestorben war, in Fleisch und Blut gesehen haben und dies mit Verve und Todesmut bezeugten. Das Grab sei leer, war einer der Beweise. Von Christus gibt es, nachdem er aufgefahren ist in den Himmel, keine vorzeigbaren ‚Reste‘. Weil er gelebt hat und gestorben ist wie wir, kann Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch begriffen werden. Dass er auch ‚Mensch‘ gewesen ist, also auch weiß, wie es ist, ein Mensch zu sein, erzwingt die Referenz auf einen Körper, den er besitzt oder besessen hat. Weil dies alles kaum zu glauben war, wurde es mit einer Bekräftigungsformel in seiner Geltung verstärkt: ‚Wir haben ihn leibhaftig gesehen! ‘ Ein ‚Credo, quia absurdum‘ stand noch nicht zur Verfügung.
Corona ist ebenfalls der Wahrnehmung nicht zugänglich. Man kann nur beteuern, dass es Corona gibt, und darauf verweisen, dass die Viren im mikroskopischen Bereich sichtbar sind und dramatische, oft tragische Effekte zeitigen – zum Beispiel in der Form der Krankheit ‚Covid-19‘. Diese Wirkungen sind für die meisten Leute nur indirekt zu spüren. Schwarze Pest, Cholera, Lepra … konnte man hingegen: riechen. Die Betroffenen wurden und waren wie von selbst ‚locked down‘: aussätzig. Schon der Gestank schuf großen Abstand.
Auch Luzifer, der ewige Antagonist Gottes, wird ‚Leibhaftiger‘ genannt, obwohl ihm ein stabiler Körper fehlt. Er wählt seine jeweilige Erscheinungsformen fallweise aus, ist also ein Täuscher (ein ‚böser Genius‘) der über viele Möglichkeiten der Verkörperung verfügt, sogar über die, sich als Pudel aufzuführen. Es fügt sich, dass die Metapher der Leibhaftigkeit auch auf den Tod angewandt wird. Für ihn gilt nicht minder, dass er keinen Körper hat. Wenn jemand ihm begegnet ist, muss er, wenn er dies mitteilen will, zu scharfen Bekräftigungen greifen: ‚Der Leibhaftige ist mir wahrhaftig erschienen!‘
Im Genre des Religiösen treten ferner die ‚Dämonen‘ auf, Gehilfen des Teufels, die Menschen blenden, in Versuchung bringen, kurz: irre machen und die Ordnung stören. Dämonen können keine Körper vorweisen, die sich anfassen ließen. Jesus wurde gekreuzigt; Dämonen kann man nicht ans Kreuz nageln. Ihre Körperlosigkeit zeigt sich daran, dass sie im Menschen, als seien sie in seinem Außen, ihr böses Spiel treiben können, um ihn zu erschrecken, bis er zu Tode fällt.
Dass die Dämonen körperlos sind, führt dazu, dass die Bezeichnung ‚leibhaftig‘ eigentlich nicht mehr passt. Diese Helfer des Teufels sind eher Mollusken, sie verwandeln sich unentwegt – ohne ‚Haltestelle‘, ohne Körper, ohne die Solidität einer an den Leib gebundenen Identität. Einen Dämon kann man nicht berühren – so wenig wie Corona. Man kann sie nur an ihren Taten, ihren Früchten erkennen und nicht: sie selbst.
Sucht man nach Begriffen für ‚Dämonie‘, findet sich eine für unser Thema instruktive Definition: Paul Tillich beobachtet das Dämonische als „Form der Formwidrigkeit“. Diese Bestimmung scheint zutiefst paradox zu sein. Dieser Eindruck entsteht aber nur dann, wenn ‚formwidrig‘ mit ‚formlos‘ verwechselt wird. ‚Widrig‘ dagegen bedeutet so viel wie misslich, lästig, störend. Mit widrigen Verhältnissen kann man also fertigwerden. Sie fallen nicht unter die Kategorie des Katastrophalen, des nicht zu Bewältigenden.
Corona gleicht den Dämonen, die irrlichtern – überall und nirgends. Es ist aber nicht formwidrig, obwohl es bekämpft wird, als wäre es ein Syndikat, in dem Ordnungswidrigkeiten produziert werden, die man einfach ‚ahnden‘ kann. Ersichtlich sind zur Eindämmung von Covid-19 Ordnungsmaßnahmen vielfältiger Art aufgeboten worden. Corona kann man aber nicht zur Kategorie der Ordnungswidrigkeiten rechnen. Es lässt sich eher unter dem Gesichtspunkt der Sinnwidrigkeit beobachten, es ist: extra ordinem. Man kann es nicht zur Ordnung rufen.
Dämonen lassen sich nur ‚bannen‘. Das heißt nicht, sie zu vernichten, sondern in ihre Schranken zu verweisen. Um dies möglich zu machen, waren in alten Zeiten Leute notwendig, die dies konnten: Dämonen heraufbeschwören und sie bannen. Revitalisierungen von Beschwörungsformeln und Bannversprechen gibt es, wenn es um Corona geht, tatsächlich zuhauf. Sie entsprechen alten Mustern, die sich mehr oder minder bewährt haben bei mehr oder minder weit streuenden Gefährdungslagen.
Krasse Beispiele für solche Muster sind etwa:
- Die resignative Akzeptanz des Unerträglichen in der Form eines ‚Achselzuckens‘, eines trivialisierten Stoizismus, ausgedrückt in Formeln wie: „Wat kütt, dat kütt. Et kütt, wie et kütt. Et is, wie et is! Et hätt noh emmer joot jejange.“
- Die kuriose Idee, dass die Natur sich mit Corona am Menschen räche, der Mensch als solcher letztlich die Ursache der Pandemie sei, und wenn nicht er, dann die Gesellschaft oder der Gott oder der Teufel, schlicht der ‚Sonstwer‘.
- Die Idee einer allgemein verfügbaren, also universalen ‘Vernunft‘. Sie wird wie so oft zum Appell gerufen in der Form eines: „Seid vernünftig! Nehmt Vernunft an! Wenn nicht, dann …“ Sich an die Vernunft halten sollen, das wird paradoxer Weise zum Befehl, also zu einer Form der Unvernunft. ‚Die Kraft des zwanglosen Arguments‘ wird ausgehebelt. Diese Maxime hat aber ohnehin in der Moderne keine nennenswerte Bedeutung mehr, besonders nicht für die Mühseligen und Beladenen und schon gar nicht für die Funktionssysteme der Gesellschaft, die strikt ihrer Eigenlogik folgen, also nicht auf Vernunft hören können.
- Das in solchen Fällen kanonische Communio-Register, in das Menschlichkeit, Nähe, Gemeinschaft, Geselligkeit, Nachbarschaft, Emphase, Achtsamkeit … eingehängt sind, Formeln, die mit Vernunft oder Rationalität eigentlich rein gar nichts zu tun haben.
- Die Wieder-einmal-Hausse des Apokalyptischen, die auch unter Intellektuellen dankbare Abnehmer und Verteidiger findet.
- Die Vorstellung, Corona werde die Welt besser machen. Irgendwelche Leute scheinen zu wissen, was denn eine ersprießlichere Welt wäre und ab wann man sagen könnte: ‚Alles ist gut‘! ‚Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. ‘ Nun, er hat sich herbe getäuscht.
- Schließlich die Proklamation der These, die Gesellschaft nach Corona würde eine andere sein, ob besser oder schlechter oder freundlicher oder nachhaltiger – jedenfalls einfach anders. Das ist fataler Weise ein faules Argument. Diese Behauptung gilt schließlich immer – von Moment zu Moment.
Solche Reaktionen treffen stets sich selbst an, niemals das, worauf sie reagieren. Sie projizieren das ‚Phänomen‘, ein Menetekel, das unter dem Titel ‚Corona‘ firmiert. In diesem Zusammenhang tauchen oft die Wörter ‚Drama‘ und ‚Katastrophe‘ auf. Wenn man die Ausgangsfrage leicht erweitert durch ‚Corona sei leibhaftig auf die Bühne getreten‘, sind beide Begriffe impliziert. Das Motiv der Bühne lässt sich nutzen für eine weitere Abschweifung, die von Formulierungen profitiert wie: Corona sei der Name einer ‚dramatischen Katastrophe‘.
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Die Metapher ‚Katastrophe‘ ist eine Katachrese, eine ‚lexikalische‘ Metapher, also alltäglich im Einsatz und angesichts einer Pandemie plausibel, einleuchtend, gar evident. Es scheint überflüssig, auf die Herkunft des Wortes ‚Katastrophe‘ hinzuweisen. Es funktioniert – einfach so.
Allerdings: Bloße Plausibilität, wenn sie argumentativ ins Spiel kommt, kann wiederum dazu führen, dass eine schiere Tautologie (Katastrophe ist Katastrophe ist Katastrophe) die Deutungshoheit übernimmt. Das wäre ärgerlich, denn Tautologien informieren schließlich, wie schon oben erwähnt, über nichts, mithin auch nicht darüber, dass der Ausdruck ‚Katastrophe‘ nicht ganz so selbstverständlich ist, wie man denken mag. Ausgeblendet wird etwa, dass dieses Wort seit der Aristotelischen Poetik im Theorie-Katalog des ‚Dramatischen‘ beheimatet ist.
Ein wichtiger Begriff in dieser Poetik ist ‚Peripetie‘ – eine Zeitfigur, die im Zuge der Handlungsströme eines Dramas eine ‚Zeitspanne‘ auszeichnet, in der das Schicksal der Helden, der Heldinnen sich wendet. Es kippt um; eine Kehre wird inszeniert, in der es sich entscheidet, ob das Drama von Unglück zu Glück (Komödie) oder von Glück zu Unglück (Tragödie) führt. Der Moment des Umschlags von einem zum anderen wird aus Spannungsgründen verzögert durch ein retardierendes Moment, moderner gesagt: durch befristetes Dämmen von Kontingenz.
Eine Analogie zur Pandemie lässt sich schnell konstruieren. Wir befinden uns, könnte man sagen, gegenwärtig in einer Phase der Peripetie und im Feld des Retardierens. Nichts ist ausgemacht, was die Zukunft in der Ägide ‚Corona‘ angeht. Die Massenmedien prosperieren in dieser Phase des Verzögerns, sie treiben, gebunden an Sensationismus, die Spannung auf die Spitze.
In der Tragödie werden alle glücksverheißenden Möglichkeiten gelöscht. Genau dies wird mit ‚Katastrophe‘ bezeichnet. Sie ist ein unausweichlicher Sturz, der allerdings nur imponiert, wenn die ‚Fallhöhe‘ beeindrucken kann. Diese Katastrophe endet klassisch in der Verbannung, im Wahnsinn, im Tod. Ein markantes Beispiel ist Shakespeares The Tragedy of King Lear.
Das Erleben des Tragischen (des endgültigen Scheiterns) in diesem Sinne ist der Tradition nach ein zentrales Merkmal der conditio humana, moderner: Es gehört nolens volens ins Programm menschlicher Existenz. Folgerichtig ist denn auch, dass der Terminus ‚Katastrophe‘ aus der Theorie der Tragödie herauskopiert und generalisiert wurde. Er bezeichnet nicht mehr allein einen speziellen Wendepunkt, von dem her das Verhängnis eines Menschen durch die Dramatis personae einem Publikum vorgeführt wird, sondern auch ‚echte‘ Schicksale von Leuten und Gesellschaften, deren Lebensläufe, deren Geschichte an irgendeiner Stelle ins Zerstörerische umbricht – ohne Sinn und Verstand.
Die Tragödie bei Aristoteles ist demgegenüber an einer Funktion orientiert. Sie läuft auf die Erzeugung bestimmter ‚Erregungen‘ der Seele hinaus, auf eine spezifische ‚Ergriffenheit‘ des Publikums. Wenn die jeweilige Tragödie so lebendig gespielt wird, dass die Handlung real scheint, wird bei denen, die zuschauen, die Differenz (oder das Amalgan die Verschränkung) zweier Gefühle wirksam: phobos und eleos. Lessings Übersetzung lautet: Furcht und Mitleid, Manfred Fuhrmann zieht Jammer und Schaudern vor.
Wie auch immer: Der Effekt des Erlebens beider Affekte ist (soll sein) Katharsis: Reinigung der Seele. Die Tragödie ist also nicht einfach ‚umsonst‘, sie ist in der eben beschriebenen Weise nützlich, sie soll unter anderem ‚Stoizismus‘ (Gleichmut) erzeugen. Im Kontext der Psychoanalyse umschreibt Bertha Pappenheim (Anna O.) Katharsis mit ‚chimney-sweeping‘, eine Reinigung des Kamins oder des Schornsteins im Zuge der ‚talking cure‘.
Das Schema des Kathartischen ist leicht zu erkennen. Die Tragödie ‚Corona‘ zeitige heilsame (!) Wirkungen, heißt es da und dort. Sie ermögliche einen Neuanfang der Menschheit. Weniger belanglos kann man das kaum sagen.
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Der anfängliche Leitsatz ‚Corona erscheint leibhaftig‘ lässt sich ausdehnen: ‚Corona tritt leibhaftig auf die Weltbühne.‘ Der Topos ist alt: „Die ganze Welt ist Bühne, und alle Frau’n und Männer bloße Spieler.“ (William Shakespeare) „Wir alle spielen Theater.“ (Erving Goffman) Solche Formeln bündeln das, was unter ‚Theatrum mundi‘ seit der Antike vertraut ist, die Idee, dass jeder Mensch eine Rolle spielt, die er nicht gestalten kann. Sie ist ihm im klassischen Altertum zugewiesen vom Fatum, vom Geschick, von Göttern, weniger vom christlichen Gott, der die Freiheitsspielräume der Menschen braucht, damit sie bestraft oder belohnt werden können – post mortem. Heute würde man eher die Sozialisation für Schicksale verantwortlich machen.
Corana spielt aber keine Rolle. An dieser Stelle bricht offenbar die Metapher von Coronas Bühnenauftritt zusammen. Es ist kein Schauspielerin, es hat kein Drehbuch. Ihm fehlt die ‚soziale Adresse‘, es bietet keinen Ankerpunkt für die Zuschreibung einer Rolle, einer Personhaftigkeit. Man kann die Metapher der Bühne dem Anschein nach nicht gebrauchen.
Gleichwohl lässt sich die Pandemie mit dem Ausdruck ‚Weltbühne‘ beobachten. Das ‚Theatrum mundi‘ hat nämlich noch eine andere Bedeutung, die eines ‚Puppentheaters‘‚ eines ‚Theaters im Theater‘. Es geht um eine Art von Mechanik, die bewegliche Papp- oder Blechfiguren nutzte und im 19. Jahrhunderte sehr erfolgreich war. Diese Maschinen waren so etwas wie Vorboten für das, was wir heute Nachrichten nennen. Nach und nach wurden im diesem Theater auch zeitlich und räumlich weit entfernte Ereignisse in der Welt zum Thema, eben: als Weltereignisse.
Was heute ‚Weltereignis‘ heißt, begann bezeichnenderweise mit einer Katastrophe. Ein Erdbeben (15.11.1755), begleitet von einem Großbrand und einem Tsunami, hatte Lissabon nahezu ausradiert. Schätzungsweise wurden 30 000 bis 100 000 Menschen getötet. Voltaires Text ‚Poème sur le désastre de Lisbon‘ avancierte schnell zum Bestseller. Zwanzig Auflagen sind 1756 allein in Europa erschienen. Goethe schrieb 1811 in ‚Dichtung und Wahrheit‘: „Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken.“
Das Besondere daran ist, dass Goethe nicht einfach von einem ‚Weltereignis‘ spricht, sondern es hervorhebt durch das Adjektiv ‚außerordentlich‘. Zwar gab es schon Weltereignisse, aber dieses hängte die Ordnungsmöglichkeiten seiner Zeit aus. Die Metaphern des dämonisch Unfassbaren lagen nahe: „Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet.“ „Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch große Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwächere Erschütterungen zu verspüren, an manchen Quellen, besonders den heilsamen, ein ungewöhnliches Innehalten zu bemerken gewesen: um desto größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten.“
Die Wendung vom ‚ungewöhnlichen Innehalten‘ lässt sich im Blick auf Corona umdeuten. Die Pandemie macht keinen Lärm. Im Gegenteil: Ihr wesentliches Merkmal ist der Einbruch der Stille. Dies allein kennzeichnet die Außerordentlichkeit dieses Weltereignisses. Will man ein prägnantes Bild dafür, kann man an Adalbert Stifter denken, der eine totale Sonnenfinsternis (1842) so beschrieb. Als sich die Korona (der Sonnenkranz) anbahnte, herrschte ein ‚bleischweres Licht‘ eine ‚seltsame Ruhe‘, und ein ‚unheimliches Entfremden‘.
Diese Entfremdung kann dämonisch wirken, aber auch als Metapher für eine Distanzierung dienen, die routinierte Strategien der Alltagsbewältigung plötzlich in ein unvertrautes Licht rückt. Corona ist nicht nur befremdlich. Es reanimiert das antwortlose Staunen über das, was so plötzlich geschieht. Corona rüttelt ‚alle Vertrautheiten unseres Denkens‘ (Michel Foucault) auf. Der Einbruch der Stille ist schließlich nicht harmlos. Die Angst vor ihr ist ein gefährlicher Unruhestifter, so ein leicht abgewandeltes Diktum von Ernst Ferstl.
Glücklicherweise lässt sich denken, dass die Schematisierung der Zukunft wenig Sinn macht. Sie ist ja, wie man sagt: unbekannt, es gibt sie nicht einmal, so wenig wie es die Vergangenheit gibt. Das lästige ‚Herum-Augurieren‘ kann man sich mit gutem Grund sparen. Die Referenz auf existentielle Tragik‚ wäre vielleicht entschieden wahrhaftiger.
Walter Benjamin schrieb: “Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Goethe führt den ‚Mut‘ an als das, was noch geht, wenn nichts mehr geht: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“
Dieser Essay diente der Vorbereitung einer Differenz, deren Einheit Corona wäre. Vielleicht könnte man jetzt ausprobieren, ob man weiterkommt, wenn sich die Einheit der Unterscheidung irgendwie im Kontext sozialen Lärms/sozialer Stille verorten ließe.
Alle Rechte: Peter Fuchs
Bild: COVID-19 CORONAVIRUS particle Computer Generated by Felipe Esquivel Reed