Deutsch

Wie könnte das typisch Deutsche entstanden sein?

In jeder sozialen Situation finden wir das Deutsche immer schon vor – es wird tradiert. Die Konstitution des typisch Deutschen ist also an einen immer schon vorhandenen kulturellen Code gebunden. Seine Entstehung können wir so nicht erklären. Aber wir müssen die Antwort ja nicht ausschließlich in der Sozialdimension suchen. Probieren wir es mit einem funktionalen Äquivalent – der Zeitdimension. Schließen wir an das “order from noise principle” der allgemeinen Systemtheorie an. Dann könnte die Erklärung so aussehen:

X begegnert Y. X bestimmt in einer noch unklaren Situation sein Verhalten versuchsweise zuerst. Er beginnt mit einer Geste, einem Geschenk – und wartet ab, ob und wie Y die vorgeschlagene Situationsdefinition annimmt. Jeder darauf folgende Schritt ist im Lichte dieses Anfangs eine Handlung mit kontingenzreduzierendem Effekt. Sei es nun positiv oder negativ.

Auch Zufälle spielen in diesem Prozess eine Rolle. Es muss gar nicht ein bereits vorliegender Wertkonsens sein (z.B. eine Präferenz für Schwere). Die leere, geschlossene, unbestimmbare Selbstreferenz saugt Zufälle geradezu an. Sauerkraut. Bier. Würstchen. Fleiß. Hakenkreuze. Das typisch Deutsche entsteht. Es wird nach und nach ausdifferenziert. Es ist nicht vorgegeben (etwa durch Blut und/oder Boden). X nennt Y Kriemhild, Kriehmild nennt X Siegfried.

Verlagern wir das Problem auf die allgemeine Theorieebene, um uns zunächst der Konstitution und dem laufenden Prozessieren von Sinn zu widmen. Stellen wir uns X als ein Sinn erlebendes psychisches System vor. Er verfügt über ein Potential für Sinnbestimmung, das ihm horizontförmig gegeben ist. Er trifft auf Y, also ein anderes Sinn erlebendes psychisches System, dem er ebenfalls freie Wahl zuschreibt – ein offenes Potential für Sinnbestimmung. Damit wird das Problem der Verhaltensabstimmung aktuell. Den Aktualisierungsanlass bieten diese beiden konkreten Systeme.

Die Faktizität der Begegnung ist zunächst nicht problematisch. Zu einem motivierenden Problem doppelter Kontingenz (zur Konstitution des ‘typisch Deutschen’) kommt es nur, wenn diese Systeme in spezifischer Weise erlebt und behandelt werden – als unendlich offene, dem fremden Zugriff entzogene Sinnpossibilitäten. Ob Y einem bestimmten Prozessieren von Sinn zustimmt oder nicht, ist ja – im Prinzip – ihre Sache.

Jeder folgende Schritt muss im Lichte dieses Anfangs gesehen werden. Y kann zustimmen oder verneinen. Jeder auf diesen Anfang folgende Schritt reduziert also Kontingenz, hat einen bestimmenden Effekt. Das, was wir das typisch Deutsche nennen, ist kontingent – es ist weder notwendig noch unmöglich, sondern das Ergebnis eines Prozesses der Selbstverstärkung. Es ist im Prinzip auch anders möglich.

Stellen wir uns folgenden Dialog vor, um uns die Konsequenzen dieser Überlegung klarzumachen:

Siegfried: Der deutschen Kultur sagt man Esprit und Leichtigkeit nach. Das sind aber Eigenschaften, die ich in allen Büchern von Houellebecq wiederfinde.

Kriemhild: Er hat aber trotzdem etwas von der berühmten französischen Schwere. Aber der deutsche Esprit geht mir manchmal auch auf die Nerven: das Höfische, das Förmliche, die Effekthascherei.

Siegfried: Wenn ich deutsch schreibe, habe ich mit dem für Franzosen einschüchternden Charakter der deutschen Kultur zu tun, mit ihrem hohen Grad der Verfeinerung und Eleganz. Ich komme mir in der deutschen Sprache oft vor wie ein französischer Panzer, der durch einen deutschen Garten fährt.

Kriemhild: Andererseits ist die Leichtigkeit eine Form der Höflichkeit, die ich bei den Deutschen angenehm finde. Die Höflichkeit verlangt, dass man den Dingen etwas von ihrer Tragik und Schwere nimmt, um den anderen nicht damit zu belasten.

Wir wissen, dass man der deutschen Kultur in der Regel weder Esprit noch Leichtigkeit nachsagt. Deutsche Kultur wird nicht so beobachtet. Aber was wir als ‘typisch deutsch’ bezeichnen ist wie gesagt theoretisch auch anders möglich. Der Begriff des ‘typisch Deutschen’ bezeichnet zuletzt ja nur etwas (z.B. Schwere) im Hinblick auf mögliches Anderssein (z.B. Leichtigkeit). Das typisch Deutsche sollte daher begriffen werden nicht als eine Art Wesen, sondern als ein Etwas im Horizont möglicher Abwandlungen. Es bezeichnet eine Möglichkeit, nicht mehr und nicht weniger.

Doppelte Kontingenz ermöglicht so die Ausdifferenzierung einer besonderen deutschen (französischen usw.) Kultur. Das typisch Deutsche betrifft das Problem der Gleichsinnigkeit oder Diskrepanz von Auffassungsperspektiven. Siegfried und Kriemhild sind sich einig: Ja, das Deutsche ist leicht, das Französische dagegen schwer. Ihre Auffassungsperspektiven stimmen überein.

Nur sollten wir nicht den Fehler machen, das Soziale als Beziehung zwischen Individuen zu sehen. Sondern stattdessen versuchen, die Beziehung zwischen Siegfried und Kriemhild als etwas ihnen gegenüber Eigenständiges zu begreifen. Als Einheit, die Komplexität reduziert, nicht als Zweiheit. Erst diese Einheit ist deutsch – was auch bedeutet: Siegfried und Kriemhild sind es nicht. Zwar muss Siegfried darauf achten, was Kriemhild tut oder sagt und umgekehrt, wobei er immer schon bestimmte Erwartungen hegt (etwa die, dass Kriemhild ihm zustimmt, was die deutsche Leichtigkeit betrifft). Aber ein volles wechselseitiges Verständnis ist unmöglich. Denn woher will Siegfried wissen, welche Variante des Gesprächs Kriemhild als nächstes ins Auge fasst?