Die Mathematik der Laws of Form: Fauler Zauber?
Nehmen wir den Autor trotz der vielen Bezüge auf die asiatische Philosophie beim Wort und fragen danach, was es jenseits der Bildkraft und der Metaphern der Laws mit ihrer Mathematik auf sich hat. Dazu müssen wir den Rechner Spencer-Brown vom Poeten trennen – kein leichtes Unterfangen. Schon die vielen “Worte, Worte, Worte” (William Carlos Williams), die er im Buch anhäuft, erschweren das Unterfangen erheblich – und geben den ersten entscheidenden Hinweis. Denn Worte sind vage. Es sind diese Vagheiten, mit denen der Poet operiert. Spencer-Brown gibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe selbst darüber Auskunft, indem er eine bestimmte Eigenschaft der englischen Sprache von der deutschen unterscheidet: «das, was ich das Irisieren englischer Worte nennen will – ihre Fähigkeit, jeden Augenblick die Farbe zu verändern, die unserer Prosa und Poesie solche Magie verleiht …» (1997: ix). Formeln, die irisieren, sind nicht der Präferenzwert der Mathematik. Was er als Kennzeichen des Deutschen ausmacht, gilt umso mehr für sie: für jedes Wort bzw. Zeichen muss eine exakte Farbe gewählt und fixiert werden. Zaubern verboten, Magie wird auf die Außenseite verbannt, die moderne Gesellschaft will es so.
Zunächst ist es hilfreich, sich die Entstehungsgeschichte der Laws vor Augen zu führen. Von wo kreuzt der Autor auf die Innenseite der Mathematik? Von der Seite des Ingenieurswesens, als Angestellter der Firma Mullard Equipment Limited. Darüber gibt er im Buch selbst Auskunft: «die Techniken, die hier niedergeschrieben sind, wurden zuerst nicht im Hinblick auf Fragen der Logik entwickelt, sondern als Antwort auf bestimmte ungelöste Probleme im Ingenieurswesen» (1997: xxiv). Wie man Schaltkreise und Aussagenlogik, Elektronik und Mathematik zueinander in Beziehung setzt, hatte mehrere Jahrzehnte zuvor bereits Claude Shannon mit seinem Kalkül demonstriert (1938). Das Spencer-Brown diese Arbeit gekannt hat, ist wahrscheinlich, viele Wendungen erinnern an Shannon; auch von dessen «ultimativer Maschine» dürfte er gehört haben, deren einziger Zweck darin besteht, sich selbst wieder auszuschalten, nachdem man sie eingeschaltet hatte (vgl. Clarke 1959: 159). Könnte die Pointe seines Kalküls zuletzt darin bestehen, sich zuletzt selbst ebenfalls wieder ‚auszustellen‘?
Zunächst ging es jedenfalls darum, den Strom fließen zu lassen. Die Aufgabe des frischgebackenen Ingenieurs besteht darin, die damals noch gebräuchlichen Relais-Schalter, denen Shannons Arbeit gegolten hatte, gegen die gerade erfundenen «Transfer resistors» (Transistoren) umzutauschen. «My job was to turn the relais circuits into transistor circuits. Now for this they used Boolean algebra, which is not at all suitable» (Spencer-Brown, zitiert nach Heidingsfelder 2019). Oder wie er in dem Vorläufer der Laws, dem für Mullard verfassten technischen Gutachten Design with the NOR (1961) schreibt: «the forms of algebra suitable for relays have proved unsuitable for NOR» units (S. I, 1). «So I invented an algebra in which every operator was one transistor. Which is the algebra of Laws of Form.» (Spencer-Brown, zitiert nach Heidingsfelder 2013) Wenn die Boolesche Algebra hinreicht, bedarf es schließlich keines neuen Kalküls.
Was hat es mit dieser Algebra auf sich, die sich laut Spencer- Brown als für Schalttransistoren ungeeignet erweist? Sie lässt sich verkürzt beschreiben als eine Untersuchung und Zusammenfassung von Rechenregeln (Boole 1958). Die grundlegende Differenz, mit der Boole operiert, ist die von Symbol/Regel: er unterscheidet eine Menge von Symbolen, im einfachsten Fall 0 und 1, von den Regeln bzw. grundlegenden logischen Operatoren NICHT, UND, ODER, mit denen man 0 und 1 verknüpfen kann. Oder noch einfacher, er unterscheidet Operationen und Rechenregeln für diese Operationen.
Booles Algebra ist speziell, denn der Prototyp enthält nur zwei Elemente, 0 und 1, wurde aber später verallgemeinert; seitdem kann sie unendlich viele Elemente enthalten – neben Zahlen auch Mengen und ihre Teilmengen etc. Mit Hilfe dieser Algebra lässt sich zeigen: Es gibt verschiedene mathema- tische Strukturen, die den gleichen Regeln gehorchen – neben Aussagenlogik und Mengenlehre und sogenannten Booleschen Funktionen, also Funktionen von 0 und 1, eben auch Schaltkreise.
An dieser Stelle kommt Henry Maurice Sheffer ins Spiel, der zeigt, dass man statt der üblichen drei Operationen die gesamte Boolesche Algebra mit nur einem Operator beschreiben bzw. aus ihm aufbauen kann, dass man also mit nur einem Symbol auskommt, «a universal logical constant» (1961: II, 1), wie der mathematische Autodidakt Spencer-Brown formuliert. Sheffers bahnbrechende Idee ist es, die zwei Operatoren NICHT und ODER zu einem einzigen Operator zu verknüpfen (jenem NOR, der Spencer-Browns Bericht seinen Titel gab). Er wird mit Hilfe des sogenannten Sheffer-Strichs bezeichnet: A|B (mitunter auch als A↑B notiert). Mit diesem Symbol kann Sheffer alles darstellen. Angeblich war er nicht der erste, der diesen Gedanken hatte – Spencer-Brown selbst weist darauf hin: «The first account of this fact was given by C.S.Peirce in a paper which remained unpublished till 1933» (1961: II, 1). Man könnte sagen, Sheffer bietet eine Alternative an, und zwar in Form einer Verdichtung oder Reduktion. Das scheint Spencer-Brown beeindruckt zu haben, der wiederum eine Alternative zu Sheffers Alternative präsentiert, die diese überbieten soll. Er ersetzt Sheffers Strich durch ein neues Symbol, zunächst «cross notation» genannt (1961: II, 2), bei dem offenbar das Nicht-Zeichen Pate gestanden hat, und verlängert den vertikalen Strich nach unten, so dass beide Striche die gleiche Länge aufweisen:

Fertig ist das neue Zeichen, der Spencer-Brown- Operator, den er nun nur noch «die Markierung» nennt.
Dieser Operator, der zunächst nur im Bereich der elektronischen Schaltungen zum Einsatz kommt und Spencer-Brown das Zeichnen und praktische Rechnen erleichtert, soll sich in den Laws einer weitaus größeren Aufgabe stellen: einer Synthese, die «die Erforschung der inneren Struktur unserer Kenntnis des Universums» (Mathematik) und «die Erforschung der äußeren Struktur» (Physik) vereint (1997: xxxi), also eine Art mathematische Erkenntnistheorie verwirklicht. Schon der Titel des Werks kann als Hommage gedeutet werden, hatte Boole sein Buch doch The Laws of Thought genannt.
Als Operator taugt Spencer-Browns asymmetrische Unterscheidung im Gegensatz zu der von Sheffer allerdings nicht viel. Was er in den «Laws» vorführt, ist letztlich trivial: Es ist nicht viel mehr als ein Multiplizieren von 1 und –1 (1 x 1, 1 x –1, –1 x–1 = 1). Die einfachste Boolesche Algebra – kompliziert notiert. Im Prinzip beschreibt er mathematisch, wie er hin- und hergeht («kreuzt»). Wir können die Innenseite der Form zum Beispiel als Inland und die Außenseite als Ausland begreifen. Wenn man 2 x hin- und herfliegt, findet man sich im Inland wieder. Wenn man 3 x hin- und herfliegt, ist man im Ausland. Gerade Zahl: Inland, ungerade Zahl: Ausland. Das lässt sich unterschiedlich darstellen, vertikal (bezeichnet den Grenzübertritt), horizontal (ich bin im Inland geblieben). Das Problem ist, dass Spencer-Brown sozusagen nur zwei Flughäfen kennt, während Sheffers abstrakte Algebra beliebig viele Flughäfen (Elemente, auch logische Aussagen) enthalten kann.
So lange er endlich viele Haken zeichnet, geht die Rechnung auf, mag sie auch wenig ertragreich sein. Problematisch wird es, wenn er – wie im Abschnitt «Gleichungen zweiten Grades» (1997: 47ff.) vorgesehen – dazu übergeht, unendlich viele zu zeichnen. Um beim Flughafen-Beispiel zu bleiben: Was passiert, wenn ich unendlich hin- und herfliege – wo befinde ich mich? Aus der Sicht Spencer-Browns steht am Ende des unendlichen Kreuzens der Re-entry, der Wiedereintritt der Unterscheidung in sich selbst, der als Darstellung von Autonomie oder Autopoiesis gelesen werden kann (vgl. Kauffman 2005: 182). Doch diese vermeintliche Selbstreferenz des Kalküls resultiert nicht aus ihm selbst. Zumindest hat Spencer-Brown diese Gewinnung des Kalküls aus dem Kalkül nicht ordentlich ausgeführt. Die «formale Bewältigung der Selbstreferenz in der Logik» (wie Hans Rudi Fischer im Vorwort von Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft behauptet, vgl. 1996: 7) lässt sich mit ihm nicht leisten.
Vom Anbeginn der Welt ganz zu schweigen. In der Genesis startet Gott bekanntlich mit der Unterscheidung «Licht» Hätte er den Spencer-Brownschen Operator zur Verfügung, könnte Gott das Licht bis in alle Ewigkeit an- und ausknipsen, aber keineswegs zur Erschaffung von Himmel und Erde fortschreiten, denn die sind nicht in der ersten Unterscheidung Licht/Dunkelheit enthalten. Wenn das Licht unendlich an- und ausgeknipst wird, ist es dann am Ende hell? Versinkt die Welt in ewiger Dunkelheit? Dass sich beide in der Unendlichkeit «schneiden» lässt sich mit dem Operator ebenfalls nicht bewerkstelligen. Er taugt lediglich zu einem kosmischen Stroboskop.
Erst wenn man den Buddhismus hinzunimmt, geht die Rechnung auf – dann lassen sich die Laws als jener Schlüssel verwenden, mit dem der Autor Mathematik identifizierte (1997: xxxv) und als Rezept im Sinne Castanedas verwenden, mit dem der All-Blick möglich wird, «the ‘viewing all qualities in one thought’ which cuts off the hopelessly entangling logical mesh by merging all differences … into the absolute oneness of the knower and the known» (Suzuki 1959: 125f.). Oder in der Sprache Spencer-Browns: die Identität von Markierung und Beobachter (1997: 66). Den Vorteil hat Fritz B. Simon kalkuliert: Wer nicht mehr zweiwertig bzw. logisch denkt, kann auch nicht mehr verrückt werden (1991: 158).
Vollständiger Text: https://www.fachmedien.de/organisationsentwicklung-ausgabe-4-2019