Im Gegensatz zu Kommunikation lässt sich Wahrnehmung nicht verneinen. Kommunikation spricht über die Welt, über Wahrnehmung, indem sie Wahrnehmungserfahrungen etwa verschriftlicht, versprachlicht, und so in eine potentielle Absenz zwingt, in eine anwesende Abwesenheit, Wahrnehmung dagegen ist die Welt: präsentisch evident, unverneinbar gegenwärtig.

Man sieht, was man sieht, auch wenn man seinen Augen nicht traut. Man kann zwar sagen, dass einem nicht gefällt, wie der Freedom Tower aussieht – aber erst, nachdem man ihn gesehen hat. Wahrnehmung referiert, ohne zu bezeichnen: sie ist positiv. Will man eine solche kompakte Positivität, eine solche präsentische Evidenz, eine solche unaustauschbare Gegenwart zum Sprechen bringen, in die Kommunikation integrieren, Wahrnehmung kommunizieren,  muss die Wahrnehmung ‘nein’ sagen können zu dem, was man nicht verneinen kann, weil man immer schon ‘ja’ dazu gesagt hat.

Wie gelingt es der Kommunikation, dieses “Defizit” (Luhmann) der Wahrnehmung zu kompensieren? Indem sie die Positivität mit Negationspotential ausstattet, die unkonventionelle Präsenz konventionalisiert. Indem sie Sinn sinnlich erfahrbar macht.

Die unkonventionelle Präsenz (die je eigene Wahrnehmung) und die konventionelle Präsenz (Zeichen, Themen) fallen im Bauwerk in eins: in eine kompakte Kommunikation, die Wahrnehmung diskontinuiert und Kommunikation komprimiert.
Man kann mit einem Mal ‘nein’ sagen zum eigentlich nicht Verneinbaren, zur Wahrnehmung. Zu dem, was dieses Material, diese Formenwahl, dieses Gesims aus verzinktem Eisen „gibt“. Wahrnehmung wird in die Kommunikation eingeführt. Was hier geschieht, ist ein Statuswechsel, denn ein Gebäude teilt ursprünglich ja nichts mit. Genau darauf kommt es nun aber an: Was sagt das Gebäude? Und wie sagt es, was es sagt? Es fordert uns dazu auf, an ihm Information und Mitteilung zu unterscheiden. Es spricht uns an.

Retromanie

Wer weiß, vielleicht ist Pop tatsächlich retromanisch geworden, schließlich gehören gehobene Stimmung, Mitteilungsdrang und krankhaft gesteigerte Aktivität seit jeher zu seinem Erscheinungsbild. Hier die mitreißende Heiterkeit, die Glückseligkeit, der unbegründete, aber strahlende Optimismus der Beatles, dort die gereize Mißstimmung und aggressiven Durchbrüche von Slayer. Man denke an das überzogene Selbstwertgefühl vieler Stars, an die Texte: locker aneinandergereihte Einfälle, oder an die Songs selbst, an das Unbeschwerte, Übermütige, Humorvolle, spritzig Schalkhafte, Ausgelassene vieler Titel.
In diesem Sinne kann Retromanie als der Versuch begriffen werden, die harte Konsens-Wirklichkeit der an Fortschritt und Weiterentwicklung orientierten Pop-Beschreibungen für einen Moment außer Kraft zu setzen – als der Versuch, sich eine Auszeit zu nehmen von den ständigen Innovationsforderungen. Mit einem Mal gelten die be- und vorschreibenden Pop-Regeln nicht mehr: „Endlich ist Feiern keine Arbeit mehr und die ästhetisch Denkfaulen dürfen hip sein wie nie.“ (Debug) Es wäre dann gerade die ständige Forderung nach fortschrittlichen Pop, die zum Gegenteil führt: zu rückschrittlicher, nostalgischer oder restaurativer Musik. Retromanie sollte dann aber positiv gesehen werden, nicht als Zeichen einer Störung oder als ein Grund zur Beunruhigung.

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Pop-Phänomenologie

Zunächst einmal ist Pop ja das „Allerbekannteste“ (Husserl). Sobald wir aber den Versuch machen, uns über den Popbegriff Rechenschaft zu geben, verwickeln wir uns in Schwierigkeiten, Widersprüche.

Eine andere Möglichkeit, sich Pop zu nähern, wäre: versuchsweise von allen Annahmen, Festsetzungen, Vor-Urteilen, Überzeugungen, von unserem gesamten Weltwissen in Bezug auf Pop abzusehen. Also einen Umweg zu wählen, der paradoxerweise darin besteht, sich direkt auf ihn zuzubewegen, indem wir nur darauf achten, wie uns Pop erscheint – und nicht so sehr auf das, was er ‘ist’. Wir fragen dann nicht mehr danach, was schon alles über Pop gesagt wurde, die Frage lautet stattdessen: Wie phänomenalisiert sich Pop? Wie erscheint uns etwas als Pop? Wir suchen ihn nicht mehr hinter den Phänomenen, wir suchen ihn in den Phänomenen. Dazu müssen wir abstrahieren – von jeder Deutung absehen – und die Pop-Erscheinung auf die gegebenen Primaritäten reduzieren. Wie ist uns Pop gegeben, wie erscheint er uns? Wie ‚poppt’ Pop?

So wie die Distel distelt:

„Vor mir steht eine Distel. Meine motorischen Nerven empfinden eine zerrissene, sprunghafte Bewegung. Meine Sinne, Tast- und Gesichtssinn, erfassen die scharfe Spitzigkeit ihrer Formbewegung, und mein Geist schaut auf ihr Wesen. Ich erlebe eine Distel.“ (Johannes Itten)

Nicht ein bestimmtes Erlebnis wie Madonnas denkwürdiges Konzert in München vom 18.8.2009 steht dann im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern das Erlebnis selbst, in dem sich die Pop-Anschauung vollzieht, jener Moment, der die Auffassung von Pop als solche fundiert. Die empfundene Stimme von Bono Vox ist ein phänomenologisches Datum – ein Datum, das von einer gewissen Auffassungsfunktion ‘beseelt’ ist und das deshalb eine Qualität darstellt. Hier die Empfindung – man fühlt ihn -, dort die Wahrnehmung: man hört ihn. Die empfundene Vox von Bono heißt nur äquivok: vox.

Pop erfassen – evident erfassen – heißt demnach noch nicht: Pop im empirischen Sinne erfassen. Was aber soll das heißen: evident erfassen? Machen wir uns das an einem Beispiel klar: am Double Elvis von Andy Warhol. Wenn wir die Augen schließen und öffnen, sehen wir den doppelten Elvis zweimal, denselben doppelten Elvis doppelt: vor und nach dem Schließen der Augen, durch einen Schnitt getrennt, wie im Film. Zeitlich sind die beiden Doppel-Elvisse also separiert. Aber am Gegenstand selbst ist keine Trennung. Die zwei Elvisse sind nicht plötzlich zu viert.

 

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Empiriefähig

Die Philosophie verhält sich zur Wissenschaft wie die Kunst zur Architektur.

Wie meinst du das?

Ein zentraler Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft liegt zum Beispiel darin, dass die Philosophie die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis prioritär setzt. Sie ist für die Resultate empirischer Forschung weitgehend blockiert. Was auch immer der Empiriker an neuen, den Thesen widersprechenden Daten dem Philosophen zumuten mag, es interessiert ihn nur am Rande. Anders die Wissenschaft, die sich nicht abschottet gegen empirische Forschungsergebnisse. Im Gegenteil: sich von ihnen irritieren lässt. Genau wie die Architektur! Und genau wie die Wissenschaft setzt die Kunst setzt die Frage nach den Bedingungen von Schönheit prioritär. Für sie zählt nichts anderes. Während Architektur sich durch Fragen der Nutzung, durch Fragen der Zwecke betreffen lässt. Sie ist per se empiriefähig. Entweder ein Gebäude hält oder es hält nicht. Kunst ist nicht irritabel durch Fragen der Nutzung, Architektur schon. „Wollte sie“, sagt Adorno, „aus Überdruß an den Zweckformen und ihrer totalen Angepaßtheit, der ungezügelten Phantasie sich anheimgeben, sie geriete sogleich in Kitsch.“

Ich glaube, Adornos Einwand zielt auf etwas anderes – auf den utopischen Charakter der Kunst, die aber nicht utopisch sein darf, weil sie die Utopie dann an ‚Schein und Trost’ verrät.

Das ändert aber nichts daran, dass die Prüfoption für ein Gebäude nicht allein seine Schönheit ist. Sondern in erster Linie die Tragfähigkeit der architektonischen Formen. Diese Formen sind offen für empirische Einwände, ganz ähnlich wie das Heck eines Audi TT. Wenn ein Haus einstürzt, ist das ein Einwand. Wenn sich die Einwände häufen, müssen diese Formen verworfen werden. Sie taugen nicht für die Architektur. Sie mögen kunsttauglich sein, weil sie schön sind, aber Schönheit ist architekturintern kein entscheidendes Kriterium. Viele Gebäude formulierten damals ihre Einwände selbst.

Das Wort kommt nicht umsonst von Wand.

Richtig. Die Kunst muss ihre Objekte nicht empirisch kontrollieren. Ein Gemälde kann nicht einstürzen.

Vor allem muss in einem Gemälde niemand wohnen.

Die Architektur muss sich, als Kunst des Bauens – als Kunst zwar, aber eben als eine, die sich Fragen der Schwerkraft und der Nutzung zu stellen hat – empirisch disziplinieren lassen. Sie muss sich messen lassen an eben diesen empirischen Referenzen.

Aber was unterscheidet sie dann noch vom Design? 

Nichts?

Rolle/Person

Die Adresse lässt sich mit Hilfe der Differenz Rolle/Person genauer bestimmen: hier der Fußballer, dort Manuel Neuer, hier der Trainer, dort Jupp Heynckes. Die Rolle ist eine schematische Adresse, sie bündelt Verhaltenserwartungen, die sich an den Inhaber einer sozialen Position richten, während die Person den konkreten Menschen meint.

Von der Person Jupp Heynckes erwartet man, dass sie individuell attribuierte Einschränkungen von Verhaltensmöglichkeiten verkörpert. Sie gelten nur für den, für den sie gelten: ihn. Es sind Erwartungsrestriktionen, die sich in den meisten Fällen aus der persönlichen Bekanntschaft ergeben. Sie schränken Verhaltensmöglichkeiten von Menschen ein, die ja prinzipiell zu kontingentem Verhalten fähig sind. „Jupp Heynckes ist charakterlich einwandfrei und absolut integer.“ (Rudi Völler, Bild 26.3.2011, S. 16)

Eine Person ist also genau genommen kein Mensch, sondern eine sozial hervorgebrachte, Erwartungen aggregierende Adresse: eine »Erwartungscollage« (Luhmann). Man erwartet vom zukünftigen Bayern-Trainer Jupp Heynckes, dass es am 30. Spieltag (17. April 2011) beim Spiel Leverkusen gegen München nicht zu einem Interessenkonflikt kommt, dass er sich als charakterlich einwandfrei und absolut integer erweist. Und Heynckes weiß, was man von ihm als Person erwartet: „Mit Leverkusen Platz 2 zu festigen. Das ist meine Aufgabe.“

Der Unterschied der Person zur sozialen Adresse ist gleichbedeutend mit dem Unterschied von Rolle und individueller Rollen-Ausführung: hier der charakterlich einwandfreie Trainer – dort Jupp Heynckes. Das Bewusstsein von Jupp Heynckes ist dabei nicht identisch mit der Person, es ist nicht nur soziales Konstrukt. Es ist aber genauso wenig etwas Ursprüngliches, vorgängig Strukturiertes, Authentisches, das im Nachhinein mit ihm fremden, uneigentlichen Erwartungen (absolute Integrität, einwandfreier Charakter) konfrontiert und kommunikativ restringiert wird. Als Sinnform wirkt sich die Person  gleichermaßen auf psychische wie soziale Systeme aus, da beide ihre kombinatorischen Möglichkeiten diesem Spielraum verdanken.

Ein Jupp Heynckes findet sich genau an dieser Funktionsstelle wieder. Als Person ist er in dieser Funktion situiert, sie fungiert als strukturelle Kopplung – als Medium – des eigenen psychischen und des sozialen Systems, in das sich beide einschreiben. Sie ist eine Zweiseitigkeit, die einerseits den Fußball mit Führung versorgt und dem Bewusstsein andererseits die Wahl lässt, sich entweder mit den Zumutungen einer Adressierung als Person zu arrangieren, diese Offerte anzunehmen (Ja, ich bin absolut integer und charakterlich einwandfrei) oder aber die Akzeptanz zu verweigern, Widerstand und Abwehr zu produzieren, es also auf Konflikt anzulegen.

 

Verstehen

„Man hat ein Gebiet verstanden, wenn man die richtigen Begriffe gebildet hat, mit denen man die Ereignisse oder die Phänomene dieses Gebiets ergreifen kann. Aber woran merkt man die Richtigkeit der Begriffe? Was gibt es da für Kriterien?
In gewissen Fällen gelingt es, sobald die Begriffe formuliert sind, sofort ein mathematisches Schema anzugeben, das so geschlossen, so einheitlich, so schön ist, dass man – wenn ich so sagen darf – einfach aufgrund der ästhetischen Schönheit dieser Mathematik nicht mehr daran zweifeln kann, dass dies ein richtiges Verständnis ist. Und natürlich kann man ein so schönes mathematisches Schema ja auch immer sofort am Experiment prüfen und sehen, ob es stimmt.
Es ist im Grunde immer wieder die Frage der Einfachheit. Ob man ein sehr kompliziertes Erfahrungsgebiet mit relativ wenigen, einfachen, konsistenten Begriffen so beschreiben kann, dass man merkt, alle diese verschiedenartigen Erfahrungen passen auf die Begriffe oder umgekehrt: die Begriffe passen auf die Erfahrungen.“

Werner Heisenberg

Ölpest

Die biologischen Veränderungen bei den Killifischen in den Überlaufkanälen und Bayous lassen sich eindeutig auf den Unfall auf der Deepwater Horizon zurückführen (drei Monate lang flossen etwa 780 Millionen Liter Öl ins Meer). Behauptet eine Forschergruppe um Andrew Whitehead. Die im Rohöl vorkommenden toxischen Wasserstoffe scheinen das Immunsystem der Fische zu schwächen.

Ursache: Ölpest. Wirkung: Verkleinerte Kiemen. Also keine toten Tiere, sondern ‘subletale’ Effekte.

Andere Forscher sind vorsichtiger. Ursache: Ölpest, Wirkung: möglicherweise beschädigte Schalen bei Krebstieren. Aber man weiß zu wenig über (diese) Garnelen. Außerdem ließen sich auch andere Ursachen anführen (Mississippi-Hochwasser). Fazit: Man kann nicht viel mehr sagen, als dass die Ölpest und der Niedergang einer Art im Golf von Mexiko zwei zeitlich nah beieinander liegende Ereignisse waren.

Ursache-Wirkung: Die biologischen Veränderungen bei den Killifischen in den Überlaufkanälen und Bayous lassen sich eindeutig auf den Unfall auf der Deepwater Horizon zurückführen. Sagt eine Forschergruppe um Andrew Whitehead. Drei Monate lang flossen etwa 780 Millionen Liter Öl ins Meer.

Die im Rohöl vorkommenden toxischen Wasserstoffe scheinen das Immunsystem der Fische zu schwächen.

Ursache: Ölpest. Wirkung: Verkleinerte Kiemen. Nicht: tote Tiere. Sondern: Subletalität.

Andere sind vorsichtiger. Ursache: Ölpest, Wirkung: beschädigte Schalen bei Krebstieren? Möglich. Aber man weiß zu wenig über (diese) Garnelen. Außerdem könnte man auch andere Ursachen anführen (Mississippi-Hochwasser).

“Oft werden wir nicht viel mehr sagen können, als dass die Ölpest und der Niedergang einer Art im Golf von Mexiko zwei zeitlich nah beieinander liegende Ereignisse waren.” Hubertus Breuer, SZ 3.11.11

Die Idee ist, Pop als ein Funktionssystem der Gesellschaft zu begreifen.

Soweit ich weiß, gibt es kein Buch von Luhmann mit dem Titel: ‚Der Pop der Gesellschaft’.

Na und? Was spricht dagegen, Pop als System aufzufassen?

Pop kann kein System sein. Die hermetisch geschlossene Begriffsarchitektur der Systemtheorie provoziert solche Thesen wie die deine. Aber die Referenz ist doch wohl kaum das Begriffssystem respective die Begrifssystematik. Ich glaube, durch die Promovierung zum Funktionssystem gehen eher Ideen verloren.

Ich sehe das relativ locker. Die Idee ist, Pop als die Permanenz von Kommunikationen zu beschreiben, die sich im Schema Hit/Flop beobachten lassen.

Ich sehe das auch locker. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, empirisch vorzugehen. Und genau hinzusehen. Pop kann kein System sein.

Und warum nicht?

Dazu müsstest du eine Funktion angeben können.

Die Funktion ist die Blockade von Kontingenz. Ich beobachte Pop als Verkettung von ganz bestimmten Kommunikationen, die sich beziehen lassen auf die Blockade von Kontingenz, genauer: von Reflexion.

Ich finde einen Popbegriff, der nur auf eine einzige funktionale Bestimmung zurückgreift, ziemlich einseitig. Er lässt zuviel zu und leistet zu wenig.

Komplizieren kann man ja dann immer noch.

Soll ich dir sagen, wie ich es machen würde?

Bitte.

Ich hätte so konzipiert: Pop erst mit Hilfe des poststrukturalistischen Theorems des ‘leeren Signifkanten’ rekonstruiert, um es dann als Programm des Systems der Massenmedien zu rekonstruieren, das vor allem über die Aktualitäts- und Archivierungsorientierung funktioniert. Man müsste dann empirisch viel genauer hinsehen. Außerdem würde man das Phänomen nicht allzu schnell eindampfen auf bestimmte Formen. Eine Netrebko wäre dann einerseits als Pop sichtbar, andererseits als Kunst. Und man könnte sehen, dass Figuren wie dieser unsägliche David Garrett –

Du magst David Garrett nicht?

Ich hasse ihn. Klassische Musik funktioniert bei ihm nur als leerer Signifkant. An solchen Grenzfällen würde ich ansetzen. Damit deutlich wird, welche Form solche Dinge annehmen, wie sich Ökonomie, Kunst selbst Religion parasitär des Pop-Programms bedienen, um dann eigene Formen zu etablieren. Wie gesagt, ich habe den Eindruck, dass man so etwas empirischer an die Sache herankäme. Pop als Funktionssystem – das leuchtet schon intuitiv nicht ein.

Ganz genau.

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Es war einmal ein Prototyp – der Rock’n’Roll. Als sich die Nachkommen dieser Urform im Laufe von Jahrzehnten über verschiedene Lebensräume verteilten, häuften sie verschiedene Modifikationen an: Metal, Techno, Hip Hop, Reggae, Indie. Die Geschichte der Popmusik ähnelt einem Baum, dessen Stamm – Blues & Folk – zahlreiche Äste ausbildet, die sich immer weiter verzweigen. Was bedeutet: Es gibt keinen Weg zurück. ‘Back to the roots’, zurück zu den Wurzeln, kann der Ast immer nur in der Gegenwart: als Ast.

Auch Darwins Theorie ist eine Erzählung, aber sie legt mehr Wert auf die Funktion als auf die Form. Ihre Form folgt der Funktion. Sie handelt davon, was die Evolution eigentlich ‘am Laufen’ hält. Wo findet sich der Motor dieser Maschine? Antwort: Im Mechanismus der natürlichen Auslese. Besser angepasste Formen überleben, werden seligiert. Im Laufe der Generationen häufen sich vorteilhafte (ererbte) Merkmale an – eine “fortwährende Modifikation”, die auf kein Endziel hinausläuft. Hier die Variabilität einer bestimmten Art (die auch ‘Systemtheorie’ heißen kann), dort die Umwelt (z.B. Deutschland).

In einem Rock’n’Roll-Song sind bestimmte Merkmale – Text, Klang, Wahl der Instrumente – lose gekoppelt. Den Chromosomen entsprechen hier die einzelnen Programme: strikte Kombinationen bestimmter Formen, die aber rekombiniert werden und so zu neuen Programmen, neuen Form-Kombinationen führen können. Die Programme sind Formen, die im Medium der Musik immer aufs Neue entkoppelt und neu gekoppelt werden können. Man kreuzt (kombiniert) white sentiment mit coloured beat. Die Hälfte der Nachkommenschaft besteht aus ‘Kindern ihrer Eltern’: sie entsprechen dem elterlichen Typ – entweder white und sentiment oder colour und beat, sogenannte Parentaltypen. Sie gehören zum gleichen Programm: Rock’n’Roll. Zwei Viertel der Nachkommenschaft weichen ab: kombinieren white und beat oder colour und sentiment. Sie rekombinieren die elterlichen Eigenschaften, es sind: Rekombinanten – neue Programme (oder Stile).

Der Cool Jazz kombiniert die Ausweitung des musikalischen Materials mit melodisch weit ausholende Linien – man ist entspannt, ist “cool, ohne kalt zu sein”. Das Resultat ist eine Rekombinante, die als ‘weiß’ beobachtet wird. Die Beobachtung übertreibt, bedient sich eines Beobachtungschromosoms, das die Merkmale Farbe (weiß/schwarz) an die Form (cool/hot) koppelt. Cool Jazz ist der Gegenbeweis. Rekombiniere: Auch ‘schwarze Musik’ (was nur heißen kann: Musik, die von Schwarzen gemacht wird) kann cool sein. Darauf, dass weiße Musik hot sein kann, musste man noch ein paar Jahre warten. Bis Elvis, Charlie Rich, Buddy Holly, Bill Haley und Jerry Lee Lewis kamen.

Wenn Pop nicht nur eine bestimmte Geschichte exerziert, sondern diese Geschichte auch beobachten will, muss die Bezugnahme auf Handlungen möglich sein, die sich zeitlich festlegen lassen: „That’s Alright“ (1954), “A Hard Day’s Night” (1964), “Like a Virgin” (1984). Die strukturelle Entität namens Pop wählt eine Geschichte, die sozial überzeugt: Elvis is where pop begins. Und da die Referenz auf Handlungen sinnförmig ist, kann es nie nur um die eine, wahre Pop-Geschichte gehen – sondern es geht immer um eine ganz bestimmte Selektivität (Auswahl), die andere Möglichkeiten nahelegt: Fats Domino is where pop begins. Jazz is where pop begins. Schumann is where pop begins. Mozart is where pop begins.  Alles kommt darauf an, ob eine solche Geschichte, mit Peter Fuchs: “plausibel verhandelbar” ist. Erzählen gründet auf dem Zeitschema: Erst dies, dann das. Die andere Seite der Form ist das Nicht-Sequentielle – die Gleichzeitigkeit.

Wie aber sequenziert man, übersetzt man die Simultaneität in ein Nacheinander? Indem man Handlungen wie “That’s All Right” isoliert, herausbeobachtet aus dem Strom passierender Ereignisse – eine permanente “Konkretion” (Fuchs), die Ereignisse in Handlungen verwandelt und durch diese Zuspitzung Sequentialisierung ermöglicht. In der Folge entsteht eine irreversible Geschichte. Was sich auf diese Weise erzählen lässt, ist aber weder beliebig, noch Wiedergabe dessen, was ‘tatsächlich’ geschehen ist. Die Erzählung ist nicht mehr als ein Mitteilungsformat – und jeder Anfang ein Mythos.Wer danach fragt, wann Jazz begonnen hat, dem helfen auch alte Schallplatten, etwa von der Original Dixieland Jazzband aus dem Jahr 1917, nicht weiter. In dem Moment, in dem Jazz als Jazz beobachtet wird, hat er ja immer schon angefangen.

Die These ist, dass sich Jazz im Medium der New Orleans Brass Bands entwickelte. Sie boten einen günstigen Nährboden für Rekombinationen – einen Spielraum, der sich nutzen ließ. Diese Bands spielten in der Regel bei langen Paraden, und weil den Musikern – die über keine musikalische Ausbildung verfügten – die immergleiche Reproduktion einer bestimmten Melodie irgendwann zu langweilig wurde, begannen sie zu improvisieren, die Melodie zu variieren. Das Variieren selbst wurde seligiert – und als ‘Jazz’ markiert. Der erste berühmte Jazzmusiker heißt Buddy Bolden, aber Aufnahmen existieren keine von ihm. Man orientiert sich an dem Jahr, in  dem Bolden seine Band gründete: 1895. Es gilt auch als Gründungsjahr des Jazz.

Der erste Unterschied (Jazz/Rest) ist also gesetzt. Alles was folgt, geschieht im Lichte dieses Anfangs, sind Raffinierungsprozesse: Unterschiede, die auf Unterschiede treffen, Unterschiede die brechen, re-kombiniert werden, Unterschiede, die tradiert (vererbt) werden.

Zunächst ist Jazz nur eine regionale Musikform: New Orleans Jazz. Verbreitungsmedien sorgen dafür, dass lokale Grenzen überschritten werden können – dass Jazz seligiert werden kann. Das Tempo nimmt zu. In einem Zeitabschnitt von etwa fünfzig Jahren differenziert sich eine Vielzahl unterschiedlicher Stile (Äste) aus. Neben den New Orleans Jazz treten Dixieland, Swing, Bebop, Cool Jazz, Hard Bop, Soul Jazz, Avantgarde Jazz (Modal Jazz, Free Jazz usw.).

Am populärsten ist Jazz in der Swing-Ära. Der Grund liegt auf der Hand: it put an emphasis on the beat. Jazz war – auch – “dance music for teenagers”. Auf die Irritation der Umwelt (Entertainment tax) reagiert der Jazz mit kleineren Ensembles – auf dem Weg zu größerer künstlicher Freiheit kommt ihm schließlich der Beat abhanden. Weshalb die Teenager zum R&B wechseln – einem Backbeat, den man nicht verlieren kann. Die Popularität des Acid Jazz verdankte sich dieser erneuten Betonung des Beats, der Unterstützung des offeneren Jazz-Beats durch Funkrhythmen.

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Leben

Lebewesen sind unwahrscheinlich. Weil jedes einzelne eine hochkomplizierte geordnete Struktur darstellt. Die Wärmelehre sagt uns aber, dass die Unordnung in der Welt stets zunehmen muss. Wieso können Lebewesen dennoch existieren?

Weil sie Energie verbrauchen, deren Erzeugung – andernorts – mehr Unordnung schafft, als der Organismus durch den Aufbau geordneter Strukturen vernichtet.

Jedes Lebewesen benötigt ständig Energie, um seinen Zustand der Ordnung gegen das natürliche Bestreben zur Unordnung aufrechtzuerhalten. Leben bedeutet: widerstehen.